Vortrag: Wie viel Religion verträgt das öffentliche Leben?

Wie viel Religion verträgt das öffentliche Leben?

Kultur- und Kongresszentrum Rosenheim, 8. November 2025

(1) Die Schulen sollen nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern auch Herz und Charakter bilden.

(2) Oberste Bildungsziele sind Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor religiöser Überzeugung und vor der  Würde des Menschen, Selbstbeherrschung, Verantwortungsgefühl und Verantwortungsfreudigkeit, Hilfsbereitschaft, Aufgeschlossenheit für alles Wahre, Gute und Schöne und Verantwortungs­bewußtsein für Natur und Umwelt.

(3) Die Schüler sind im Geiste der Demokratie, in der Liebe zur bayerischen Heimat und zum deutschen Volk und im Sinne der Völkerversöhnung zu erziehen.

(4) Die Mädchen und Buben sind außerdem in der Säuglingspflege, Kindererziehung und Hauswirtschaft besonders zu unterweisen.

So heißt es in Artikel 131 der Verfassung des Freistaates Bayern. Ähnliche Beispiele lassen sich in anderen Landesverfassungen finden. Derartige Formulierungen lösen in Lehrveranstaltungen immer wieder Verwunderung oder auch vehementen Widerspruch aus. Darf der Staat ein Bekenntnis zu Gott vorschreiben? Soll der Staat nicht vielmehr weltanschaulich neutral sein? Passt ein solcher Anspruch noch zu einer pluralen und offenen Gesellschaft? Und tatsächlich erhitzen sich gerade am Gottesbezug der Verfassung immer wieder die Gemüter. Oder auch am Kreuz im öffentlichen Raum, wie es in diesem Sommer wieder einmal zu erleben war: Zu groß, zu deutlich sichtbar, daher störend. Und so entschied der Bayerische Verwaltungsgerichtshof, das Kreuz müsse abgehängt werden.

1. Warum bleibt ein Letztbezug für den Staat wichtig?

Es geht – wie  auch bei der religiösen Eidesformel – nicht um ein persönliches Credo oder ein konfessionelles Gottesbild, sondern eine kulturethische Aussage. Mit dieser trifft der Verfassungsgesetzgeber eine gewichtige Wertvorentscheidung: „Es geht um die Anerkennung einer Verantwortung über die bloße Mehrheitsmeinung oder Opportunität hinaus.“ – so der Kulturpolitiker Thomas Sternberg. Es geht um die Gründung der sittlichen Person, die noch einer anderen Instanz, ihrem Gewissen, gegenüber verpflichtet ist. Und es geht um die Rückversicherung gegenüber totalitären Tendenzen – wider eine Selbstüberschätzung des Menschen, wider einen Staat, der sich absolut setzt, wider jede Form des Materialismus, der den Menschen in letzter Konsequenz nur mehr als Funktionär der sozialen Verhältnisse betrachtet, ihm aber letztlich keine höheren geistigen Antriebe, Interessen oder Ziele zuzugestehen vermag. Der Gottesbezug hält jene Leerstelle offen, ohne die letztlich auch die Freiheit des Menschen auf der Strecke bliebe. Wir Deutschen haben dies in zwei Diktaturen schmerzlich erfahren. Die Ideologie der Freiheit darf niemals mächtiger werden als die konkrete Freiheit des Einzelnen. Denn der Mensch muss selbst bestimmen können, wer er sein will und wie er leben will. Dies verleiht ihm eine besondere, nur ihm eigene Würde. Der Mensch hat aber nicht allein die Fähigkeit, sondern auch die Verpflichtung, sich zu entscheiden. Die Aufgabe, Ich zu sagen, die Anstrengung echter Charakterbildung können wir aber nicht an andere delegieren.

Eine „Erziehung zur Ehrfurcht“ vor Gott – oder wie anders wir davon sprechen wollen –, zur Freiheit im Denken und Handeln sowie zur sittlichen Verantwortung genauso wenig wie Liebe, Freundschaft oder Vertrauen operationalisierbar. Daran ist besonders zu erinnern in Zeiten, in denen Bildung oftmals so etwas wie das neue Heilsversprechen der säkularisierten „Wissensgesellschaft“ geworden ist. Ein solcher Letztbezug schützt davor, den Anspruch auf Bildung quasireligiös zu überhöhen, in Gestalt einer pädagogischen Kontrollgesellschaft, einer Erziehungsdiktatur oder durch manipulative Pädagogisierung aller Lebensbereiche. Ohne Letztbezug im weitesten Sinne, so die Überzeugung der Verfassungsväter, wäre eine Bildung der sittlichen Person gar nicht denkbar. Bildung kann zwar den Raum eröffnen, die Sinnfrage zu stellen, einen letzten Lebenssinn findet der Einzelne in ihr jedoch nicht. Bildung verweist den Einzelnen auf sich selbst, seinen Lebenssinn zu suchen und jene Wahrheit zu erkennen, die ihn frei macht – frei jenseits aller menschengemachten Bildungs­anstrengungen.

2. Warum sollte sich der Staat zu seinen religiösen Wurzeln bekennen?

Auch wenn die Gottesformel für unterschiedliche individuelle Bekenntnisse offen bleibt, ist sie keineswegs wertneutral. Dies zeigt schon die Formulierung selber. Es fällt zunächst auf, dass von Gott im Singular die Rede ist. Und scheint nicht auch dahingehend eine Festlegung vorzuliegen, indem an einen Gott gedacht wird, der das Leben und die Würde des Menschen bejaht oder sogar begründet?

Der neuzeitliche Staat ist nicht mehr etwas Selbstzweckhaftes; er bedarf vielmehr selbst der Legitimation. Der Verfassungsgesetzgeber versichert sich mit dem Bezug auf Gott einer Legitimationsgrundlage des staatlichen Handelns, die ohne Religion oder zumindest religionsoffene Philosophie nicht auskommt. Die Gottesformel markiert als „Leerstelle“ jenes geistige Fundament, auf dem unser Gemeinwesen aufruht und das der moderne Staat nicht selbst garantieren kann.

Wir haben uns daran gewöhnt, in einem stabilen, demokratischen Rechts-, Sozial- und Kulturstaat zu leben. Doch selbstverständlich ist das keineswegs. Und so täten wir alle gut daran, mit den kulturellen Grundlagen unseres Staatswesens nicht allzu sorglos umzugehen. So wie wir es vor nicht allzu langer Zeit bei der Debatte über die Bibelinschrift auf der Kuppel des Berliner Stadtschlosses erlebt haben. Umstritten ist auch das Kreuz im öffentlichen Raum. Das Kreuz – etwa im Gerichtsgebäude – erinnert auch im säkularen Staat daran, dass irdische Gerechtigkeit immer fehlbar bleibt und wir noch einer anderen Instanz, nennen wir sie Gott oder Gewissen, verantwortlich bleiben. Ankläger und Zeugen werden daran erinnert, nicht leichtfertig oder gar falsch Zeugnis gegen andere abzulegen, Richter daran, das Recht nicht zu beugen oder leichtfertig Urteile zu sprechen.

Der Wille zum Recht kann rechtsimmanent allein nicht gesichert werden. Ein formaler Verfassungspatriotismus genügt als Ethos nicht, um die Menschenrechte dauerhaft zu sichern. Hierfür braucht es eine tiefergehende religiöse oder ethisch-humanistische Motivation. Der Mensch ist mehr als ein Funktionär der sozialen Verhältnisse. Lebendig, geistig vital und schöpferisch bleibt ein Gemeinwesen nur dann, wenn seine Bevölkerung nicht allein funktional qualifiziert ist, sondern umfassend gebildet. Hierzu gehört ein Wissen um die eigene kulturelle Herkunft und Identität. Diese sind nicht beliebig austauschbar. Ein Staat, der sein kulturelles Gedächtnis verliert und in dem es keine verlässlichen Gemeinsamkeiten mehr gibt, muss den Verlust an Integrationskraft durch Kontrolle und Steuerung ersetzen.

Die Identität unseres Gemeinwesens ist nicht vom Himmel gefallen, sondern historisch-konkret gewachsen, und zwar in einem Prozess, in dem religiöse, kulturelle und politische Werte nicht zu trennen sind. Ja, selbst der Streit über das Kreuz als religiöses und kulturelles Symbol setzt die besondere abendländische Prägung unserer Rechts- und Verfassungsordnung voraus, die sich unter anderem in der Trennung von religiöser und politischer Sphäre bei gleichzeitiger Kooperation beider Gewalten äußert. Das Kreuz steht nicht allein für Heimat, Geborgenheit oder regionale Brauchtumspflege – das wäre zu wenig. Das Kreuz steht für die kulturellen Wurzeln, aus denen unser demokratischer Rechts-, Sozial- und Kulturstaat lebt. Dieser darf Flagge und Kreuz gleichermaßen zeigen, so lange er den Einzelnen nicht zu Bekenntnisakten zwingt. Es ist kein Missbrauch des Kreuzes oder die Enteignung einer Religion, wenn sich unser Staat auf seine Wurzeln besinnt und diese im öffentlichen Raum präsent hält. Intoleranz gegenüber Religion entsteht im Gegenteil leichter dort, wo diese als etwas Bedrohliches erscheint und öffentlich nicht mehr verstanden wird. Die rechtmäßige, in biblischer und sozialethischer Tradition gut begründete Gewalt des Staates bedarf normativer Grundlagen, wenn sie nicht zum Unrecht einer Räuberbande mutieren solle. Das Kreuz bleibt aber auch eine Anfrage an die Kirche, die sich vor allzu vorschnellen politischen Heilsgewissheiten in vorletzten Fragen hüten sollte. Das Kreuz in öffentlichen Gebäuden kann das harte Ringen um eine an Recht und Gerechtigkeit orientierte Politik in Verantwortung vor Gott und den Menschen nicht ersetzen. Vor dieser Aufgabe stehen Christen wie Nichtchristen gleichermaßen.

3. Welche Herausforderungen stellen sich in der pluralen Gesellschaft?

Heute stellt sich die Frage, wie das christliche Erbe in einer zunehmend pluraler gewordenen Gesellschaft verstanden und bewahrt werden kann. Die christliche Identität besitzt für unser Gemeinwesen eine weitergehende kulturethische Bedeutung: für Politik und Kultur, für Bildung und Wissenschaft, für unser Zusammenleben in Staat und Gesellschaft. Nicht zuletzt die Trennung von religiöser und politischer Sphäre – nach der unnachahmlichen Formel „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.“ –  bei gleichzeitiger Kooperation beider Gewalten wäre bedroht – und damit ein wichtiges Moment, das sich in der abendländischen Geistes- und Kulturgeschichte äußerst produktiv ausgewirkt und gewaltige Leistungen freigesetzt hat. Ob wir diese Tradition angesichts der demographischen Entwicklung, säkularer Tendenzen auf der einen und vermehrter Einwanderung auf der anderen Seite bewahren können, ist auf längere Sicht keineswegs ausgemacht.

Wir werden den christlichen Referenzrahmen nicht schadlos durch andere Traditionen ersetzen können. Würden wir uns auf andere Traditionen festlegen, würden sich auf Dauer unser Gemeinwesen und dessen Moral erheblich verändern. Es steht mehr auf dem Spiel als liebgewordene „Folklore“, wenn wir St. Martin durch ein „Sonne-Mond-und-Sterne-Fest“ ersetzen, an Weihnachten nur noch unspezifische „season’s greetings“ versenden oder Ostern zum „Hasenfest“ herabstufen. Wer weiß, wie lange unsere Feiertagskultur in dieser Form noch erhalten bleibt. Das Tanzverbot am Karfreitag wird kaum noch verstanden, verkaufsoffene Sonntage durchlöchern den verfassungsrechtlich geschützten Sonntag und einzelne Parteien oder Politiker fordern immer mal wieder, einen Teil der christlichen Feiertage durch nichtchristliche oder auch bewusst religionsfreie Feiertage zu ersetzen.

Mittlerweile stehen angesichts haushaltspolitischer Zwänge wieder Feiertage zur Disposition, etwa der Pfingstmontag. Die evangelische Theologin Christiane Thiele hat schon 2020 im Deutschlandfunk vorgeschlagen, den Pfingstmontag zu strei­chen, zugunsten des Versöhnungstages Jom Kippur. Aufmerksamkeit an Pfingsten war ihr gewiss, auch wenn die Idee keineswegs neu ist. Was an Thieles Vorschlag auffiel, war die Begründung. Bei Lichte besehen, ging es der umtriebigen Theologin gar nicht um das Judentum. Ein allgemeines Versöhnungsfest soll es werden. Denn Versöhnung sei für alle Menschen wichtig. Die christliche Feiertagskultur – oder was von ihr überhaupt noch übrig ist – taugt am Ende nur noch als Verschiebemasse. Religiöse Inhalte werden aufgelöst in einen allgemeinen, schwammigen Huma­nismus, der irgendwie für alle zustimmungsfähig sein soll.

Drei Aspekte möchte ich abschließend benennen, warum die Frage nach Religion für einen stabilen, vitalen Kulturstaat unverzichtbar bleibt.

3.1 Befähigung zum Reden über Religion

Wo Lebensverhältnisse krisenhaft und kontingent werden, stellen sich religiöse Fragen neu. Wer angesichts der vorhandenen Vielfalt an Lebenskonzepten, Wertorientierungen und Sinnangeboten nicht gelernt hat, sich zu entscheiden, über den wird sehr leicht entschieden, aber eben von anderen. Zugleich bedarf unser gemeinsames Zusammenleben sinnstiftender Lebensdeutungen, der Verpflichtung auf verfahrensrechtliche Tugenden, und es braucht einen substantiellen Mindestkonsens an formaler Sittlichkeit. Bürgersinn oder zivilgesellschaftliches Bewusstsein stehen nicht einfach als Ressource zur Verfügung. Diese Ressource muss gepflegt werden. Dabei können Politik, Wirtschaft und Gesellschaft nicht darüber hinwegsehen, dass ihre jeweiligen Sachbereiche auch unter der Bedingung des Pluralismus weiterhin religiös bestimmt werden. Die Ausbildung einer kulturellen oder religiösen Identität sowie die Entwicklung sozialer Integrationsfähigkeit werden nur als ein subjektiv bestimmter, aktiv zu gestaltender Prozess gelingen. Religiöse Bildung ist nicht von den Anforderungen einer wie auch immer gedachten staatsbürgerlichen Religion her zu denken, sondern vom sich bildenden Subjekt.

Die für die Moderne geltende Autonomie der Bildung setzt eine eigene religiöse Praxis nicht zwingend voraus. Gleichwohl wird aber von umfassender Persönlichkeitsbildung nur dann gesprochen werden können, wenn der Einzelne in der Lage ist, sich selbst und die Welt um sich mit Bezug auf religiöse Sprachformen wahrzunehmen und zu werten. Religiöse Lernprozesse bleiben unverzichtbarer Bestandteil des allgemeinen Bildungsauftrags – nicht im Sinne religiöser Rede, sondern im Blick auf die Befähigung zum Reden über Religion. Wo Religion nicht mehr verstanden wird, erscheint sie schnell als etwas Bedrohliches, das es zu verbannen, zu domestizieren oder zu bekämpfen gilt. Wo über Religion nicht mehr geredet werden kann, werden wir vieles nicht mehr verstehen und einordnen können: weder Lessings Nathan den Weisen noch die religiöse Ursache weltpolitischer Konflikte, weder entscheidende Wegmarken abendländischer Geschichte noch die Sprache der Kunst oder Musik.

3.2 Pflege der eigenen Identität

Ein Verständnis für das Fremde wird sich nur vom Standpunkt des Eigenen her entwickeln können, in wechselseitiger Verschränkung von Selbst- und Fremdverstehen. Gelingender interkultureller und interreligiöser Austausch setzt voraus, dass alle Beteiligten auch etwas haben, das sie einbringen können – andernfalls kommt der Austausch letztlich zum Erliegen. Die Andersartigkeit des anderen zeichnet sich erst vor dem Hintergrund des Eigenen ab – und erst dann kann der Einzelne auch ein begründetes Urteil fällen. Wo alles gleich ausfällt, kann nicht mehr argumentativ gestritten werden. Eine zwar religionsfreundliche, aber letztlich plural-indifferente (Lern-)Umwelt wird religiöse Identitätsbildung eher erschweren als erleichtern. Dies hat nicht allein individuelle Folgen, sondern auch gesellschaftliche. Gelingende Integration setzt das Vorhandensein einer Kultur voraus, in die hinein Integration überhaupt möglich ist.

Erfahrungen von Fremdheit und Irritation sind dabei nicht ausgeschlossen. Sie können niemals vollständig überwunden, sondern nur reflexiv bearbeitet werden. Toleranz ist nicht pädagogisch-intentional zu erzeugen, sie wird aber dort leichter fallen, wo religiöse Fragestellungen pädagogisch, akademisch, kulturell oder politisch nicht als Störfaktor ausgeklammert werden, sondern lebendige Religion erfahrbar ist und wo diese als Anlass zur geistigen Auseinandersetzung begriffen werden.

3.3. Toleranz meint nicht Neutralität

Heute geht es weniger darum, freiheitsbedrohende Übergriffe der Kirche abzuwehren, als vielmehr darum, Freiheitseinschränkungen durch einen übergriffig werdenden Säkularismus zu verhindern, häufig im Namen fehlverstandener Toleranz.

Die Wirksamkeit des modernen Staates in religiösen Dingen bleibt um der personalen Freiheit des Einzelnen willen begrenzt – und zwar sowohl im Blick auf die Förderung bestimmter konfessioneller Bekenntnisse als auch umgekehrt im Blick auf einen forcierten Prozess vermeintlich neutraler „Demokratisierung“ aller Lebensbereiche, der Religion weitgehend aus dem öffentlichen Leben ausklammert und gerade durch die Verleugnung weltanschaulicher Horizonte selbst zur Weltanschauung wird. Beide Grenzen werden gegenwärtig prekär: Ob einerseits der Staat im Zuge des neueingeführten, stark integrationspolitisch motivierten Islamunterrichts die Grenzen seiner eigenen Wirksamkeit in religiösen Dingen tatsächlich einhält, wird sich auf Dauer erst noch erweisen müssen. Ich habe hier meine Zweifel.

Andererseits erweckt die Ausdehnung menschenrechtlicher Forderungen nach Ende der Blockkonfrontation und die Berufung auf eine fast schon quasireligiös überhöhte Kultur der Menschenrechte in jüngerer Zeit den Eindruck, hier könnte eine neue Zivilreligion entstehen, die letztlich den Rückgriff auf religiös-weltanschauliche Horizonte gänzlich überflüssig machen soll und jegliche konfessionelle Identitätsbildung fast schon als Sakrileg betrachtet. (Am Rande gesagt: Die Kirchen wiederum erwecken mitunter den Verdacht, der Rekurs auf die Menschenrechte könne eigene theologische Anstrengung ersetzen; so entsteht der Eindruck, die menschenrechtliche Forderung selbst sei schon die eigentliche „Botschaft“ der Kirche.) Wo weltanschauliche Bindungen abgelöst werden sollen und der öffentliche Streit um das bessere Argument ersetzt wird durch das Tabu – in Gestalt eines vermeintlich neutral gedachten „demokratischen Habitus“ –, besteht leicht die Gefahr, den Einzelnen – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne gesellschaftspolitisch erwünschter Meinungen zu überwältigen. „Demokratisierung“ wird dabei missverstanden als Gleichschaltung des öffentlichen Raumes.

Keine Werterziehung wird ohne Rückgriff auf letzte Grundüberzeugungen die verwirrende Vielzahl an Werten in eine stimmige Ordnung bringen können. Die staatliche Neutralität in religiösen Dingen meint die Diskriminierungsfreiheit religiös-weltanschaulicher Überzeugungen, nicht deren Neutralisierung oder Nivellierung zu einer staatlich betriebenen, einheitlichen Zivilreligion. Rolf Schieder hat dies im „Handbuch Interreligiöses Lernen“ pointiert auf den Punkt gebracht: „Eigentlich will man eine staatseigene Zivilreligion, wagt aber nicht die offene Konkurrenz mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften, sondern erklärt sich selbst für ‚neutral‘, womit die Religionsgemeinschaften eo ipso parteiisch sind. Das Motto lautet: Die anderen sind religiös, wir sind normal.“

Wie weit religiöse Bezüge im öffentlichen Leben zulässig sein sollen, wird nicht allein von der Exekutive oder den Gerichten zu entscheiden sein; eine legitimatorische Selbstbedienungsmentalität des Staates in Wertfragen könnte leicht die Folge sein. Diese Frage muss im gesellschaftlichen Diskurs verhandelt werden, Entscheidungen bedürfen der parlamentarischen Legitimation. Auch auf europäischer Ebene müssen diese Fragen ernsthaft verhandelt werden, wenn es nicht durch judikative oder exekutive Alleingänge zu Verwerfungen innerhalb der nationalen Gesellschafts- und Rechtstraditionen kommen soll. Diese reichen innerhalb der EU von staatskirchenähnlichen bis zu laizistischen Modellen. Eine europäische Harmonisierung ohne Konflikte scheint kaum vorstellbar, sollte eine solche überhaupt wünschenswert sein.

Jede Gesellschaft, die handlungsfähig bleiben will, braucht „eine symbolische Vorstellung von sich selbst“. Bei tragischen Ereignissen wird mehr als deutlich, dass der Staat auf Religion nicht verzichten kann und will. Aus historischen Gründen sind wir in Deutschland sehr zurückhaltend mit der Pflege einer eigenen Zivilreligion und haben deren Aufgaben vielfach an die großen Kirchen delegiert. Der religiöse Pluralismus bringt es zwangsläufig mit sich, den Kreis derjenigen Akteure zu öffnen, die am zivilreligiösen Konsens mitarbeiten. Der liberale Rechts- und Verfassungsstaat kann die gesellschaftlichen Teilsysteme nicht an eine gemeinsame, für alle verbindliche Weltanschauung binden. Umgekehrt bleibt das politische System aber grundsätzlich darauf angewiesen, dass die verschiedenen Bekenntnisse dieses auch aus religiösen Gründen anerkennen. Nicht umsonst gründet das kooperative Staat-Kirche-Verhältnis darin, dass Bischöfe nach ihrer Ernennung den Eid auf die Verfassung ablegen müssen. Im Falle der großen Kirchen hat sich diese wechselseitige Anerkennung in langer Übung und nicht ohne leidvolle Erfahrungen ausbalanciert. Treten neue Akteure in den Diskurs um die zivilreligiöse Frage ein, muss dies keinesfalls konfliktfrei vonstattengehen. Es bleibt abzuwarten, ob sich auch im Fall des Islams eine solche Balance einstellen wird, wenn dieser eine zunehmend gewichtiger werdende gesellschaftliche Rolle spielen sollte. Die Rede von einem „europäischen Islam“ suggeriert dies. Doch scheint das zivilreligiöse Konfliktpotential, das hier schlummert, gegenwärtig durchaus unterschätzt zu werden, genauso wie die emotionalen Verwerfungen, die drohen, wenn eine erstarkende Religion offensiv Felder besetzt, auf denen das Christentum an Terrain verliert.

4. Ausblick

Religion und Politik brauchen einander, soll sich nicht jeweils eine Seite absolut setzen – was in der Geschichte noch nie gut ausgegangen ist. In der zivilreligiösen Fragestellung zeigt sich, wie religiöse und politische Fragen miteinander verwoben sind. Denn die politisch denkenden Bürger sind zugleich Träger religiöser Haltungen im weitesten Sinne – und umgekehrt. Daher wird es keine Zivilreligion ohne Bezug zur verfassten Religion geben können, wie umgekehrt die verfasste Religion stets auf politische Rahmenbedingungen trifft. Bildung und Wissenschaft sind Orte, dieses Ineinander religiöser und politischer Fragestellungen reflexiv zu bearbeiten. Bildung und Religion besitzen auch unter den Bedingungen gesellschaftlicher Plu­ralität unverzichtbare Bedeutung für einen freiheitlichen, vitalen und tragfähigen Kultur­staat. Viel war heute von der kulturethischen Bedeutung des Christentums die Rede gewesen. Diese wird auf Dauer aber nur tragen, wenn auch ein praktiziertes christliches Bekenntnis in unserem Land lebendig bleibt. Wir tragen eine soziale Verantwortung für Werte und Normen, Ethos und Tradition, Sprache und Wissenschaft, Kunst und Kultur oder Religion, die weit über unsere eigene Gegenwart hinausreicht. Wie künftige Generationen leben, denken und handeln werden, wird wiederum davon beeinflusst werden, wie wir heute leben, denken und handeln.

Hinterlasse einen Kommentar