Rezension: Weimar – mehr als ein Erinnerungsort. Ein Kraft- und Ideenort bis heute

Helge Hesse: Ein deutsches Versprechen. Weimar 1756 – 1933, Ditzingen: Philipp Reclam jun. 2023, 283 Seiten.

Marita Lanfer: Säen bei Nacht. Der Deutsche Widerstand als Auftrag zur Erziehung, Bad Schussenried: Gerhard Hess 2021, 467 Seiten.

Wenn eine Stadt zu Recht den Titel „Kulturstadt“ trägt, dann wird man dies sicher über Weimar sagen dürfen. Die Residenzstadt des Herzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach hat wie keine andere deutsche Stadt die Kulturgeschichte in einer Dichte geprägt, die nahezu einmalig und im Stadtbild noch heute sichtbar ist. Von den Hauptvertretern der Weimarer Klassik – Goethe, Schiller und Herder – bis zum Bauhaus. Man darf mit Fug und Recht auch noch Eisenach dazu nehmen, das 1741 dem Herzogtum Sachsen-Weimar vertragsgemäß zufiel und mit der historisierend wiederaufgebauten Wartburg, den Bach- und Lutherstätten, seinen ausgedehnten Gründerzeitvierteln und dem Burschenschaftsdenkmal gleichfalls auf bis heute sichtbare Weise die deutsche Nationalkultur repräsentiert – und mit dem Mahnmal für das protestantische Entjudungsinstitut wie Weimar ebenfalls den Kulturbruch von 1933 mitträgt.

Der Philosoph und Wirtschaftswissenschaftler Helge Hesse nimmt seine Leser auf eine faszinierende Reise durch die Kultur-, Ideen- und Geistesgeschichte Weimars mit – bis zum Zivilisations- und Kulturbruch von 1933, der sich im Konzentrationslager Buchenwald auf dem Ettersberg bei Weimar manifestierte. Damit endet der historische Durchgang – eine Entscheidung des Autors, die plausibel ist. Dennoch wäre möglicherweise ein Schlusskapitel zum Fortwirken des „deutschen Versprechens“ von Weimar und dem Umgang damit in der DDR wie in der Bundesrepublik wünschenswert gewesen. Noch heute ist das DDR-Erbe in Gestalt seiner Architektur unmittelbar neben dem Deutschen Nationaltheater, dem Gründungsort der Weimarer Republik, deutlich im Stadtbild sichtbar.

Das Buch ist jedem zu empfehlen, der sich auf einen Besuch Weimars vorbereiten will. Aber es geht um mehr als einen Reiseführer für Kulturbürger. Der geistes- und ideengeschichtliche Durchgang durch die Jahre von 1756 bis 1933 zeigt, wie wichtig die Pflege der kulturell-moralischen Grundlagen für die geistige Vitalität, intellektuelle Tiefe und prägende Ausstrahlungskraft eines Gemeinwesens ist. Hesse beginnt seinen historischen Durchgang mit Anna Amalia aus dem Hause Braunschweig-Wolfenbüttel und der Zeit des jungen Herzogs Carl August. Es folgen Kapitel zu Goethe, Schiller sowie Maria Pawlona und Schopenhauer und dann Liszt. Mit Graf Kessler und van de Velde tritt Weimar in die Moderne ein, das Schlusskapitel widmet sich der Epoche des Bauhauses. Ein Personenregister zum schnelleren Auffinden einzelner Episoden fehlt leider.

Historische Fehler trüben den Lesefluss nur geringfügig. So ereignete sich die Heidelberger Spargelaffäre, die den Nationalsozialisten als äußerer Anlass für das Verbot der studentischen Korporationen diente im Kreis des Corps Saxo-Borussia, auch wenn Hesse diesem Ereignis einen burschenschaftlichen Hintergrund gibt. Hesse erwähnt das Wartbugfest, geht aber auf studentengeschichtliche Bezüge in seinem Band nicht weiter ein. Dabei lohnte es sich durchaus, zu fragen, inwiefern das liberale Klima in den thüringischen Fürstentümern auch die Entwicklung der spezifischen Form des deutschen Couleurstudentums begünstigt hat; immerhin liegen die Wurzeln nicht weniger Korpoationsverbände, wie Orte wie Eisenach, Sondershausen, Schwarzburg oder Jena bezeugen, gerade hier in Mitteldeutschland.

Auch gelingt es Hesse nicht, die nationalsozialistische Vergangenheit Weimars in ideengeschichtliche Zusammenhänge einzuordnen. Als Beispiel sei Johannes Itten genannt, den Hesse als Esoteriker kennzeichnet. Wer das Bauhausmuseum in Weimar besucht, erfährt zumindest am Rande, dass sich schon der am Bauhaus lehrende Meister – ein Anhänger der Mazdaznanlehre, eines reformierten Zarathustrismus – mit der damals noch jungen Rassetheorie beschäftigte. Diese war keine „Erfindung“ der Nationalsozialisten, und Itten keineswegs der Einzige seiner Zeit, der sich für deren  vermeintlich „wissenschaftliche“ Thesen interessierte – Hesse erwähnt dieses Interesse des Kunsttheoretikers Itten nicht (nur am Rande sei erwähnt, dass gegenwärtig erneut über rassetheoretische Bezüge im Denken des jungen Joseph Beuys diskutiert wird). Solche Bezüge auszuleuchten, hätte es etwas mehr Tiefenschärfe gebraucht; die Kulturgeschichte der Moderne lässt sich nicht allein im Gegensatz zur nationalsozialistischen Diktatur erzählen, was die brutale Bilderstürmerei der nationalsozialistischen Kulturpolitik in Thüringen gegen das Bauhaus keineswegs rechtfertigt.

Zustimmen mag man dem Autor, wenn er in einem knapp gehaltenen Ausblick schreibt: Weimar habe vor allem dann Ausstrahlungskraft besessen, wenn es mit der eigenen Identität nicht haderte und gerade deshalb auch offen sein konnte für die Begegnung mit anderen Identitäten und Anregungen von außen (Weimar zog Persönlichkeiten wie Franz Liszt, Henry van de Velde oder Wassily Kandinski an). Dies wäre jeder Kulturpolitik zu wünschen, und zwar jenseits üblicher Sonntagsreden. Daher bleibt zu hoffen, dass das humanistische Versprechen der kleinen thüringischen Residenzstadt auch heute und künftig ausstrahlt und Weimar weiterhin ein „bedeutender Kraft- und Ideenort“ (Hesse, S. 276) – so Hesse – bleibt.

Ein Land braucht solche Kraft- und Ideenorte, gerade in seinen dunklen Stunden. Und an dieser Stelle lohnt sich ein Blick auf  Marita Lanfers Band „Säen bei Nacht“, in Anlehnung an eine Formulierung des Jesuitenpaters Alfred Delp, der dem Kreisauer Kreis angehörte. Die Lehrerin fragt nach jenen ideellen Kraftorten, aus denen Mut zum Widerstand erwachsen kann: „Es war auch diese tiefe Verwurzelung in Familie, Heimat und Volk, aus der den Widerstandskämpfern die sittliche Verpflichtung erwuchs, sich bis zur Hingabe ihres Lebens für die Heimat einzusetzen, die sie die ihre nennen konnten“ (Laufer, S. 436). Hier ist sie wieder zu spüren: die eigene Identität, die nicht mit sich selbst hadert. Dabei geht es um eine Verwurzelung, die sich nicht von aktueller politischer Rhetorik täuschen lässt: „Der Nationalsozialismus schien ursprünglich zwar gerade die Ideale von Volk und Heimat hochzuhalten und neu ins Recht zu setzen. Doch das sie jetzt rassisch vergötzt und in ihrem Namen die Achtung anderer Völker und ihrer Heimat mit Füßen getreten wurde, war Verrat von dem, was Verwurzelung ausmachte, und stellte sie infrage“ (ebd.).

Dieser Wurzelgrund muss gepflegt werden, braucht einen Nährboden. Für Lanfer heißt dies: die Bereitschaft der älteren Generation, den Auftrag zur Erziehung anzunehmen; die Bereitschaft, als lebendiges Vorbild zu wirken; die Kraft positiver Leitbilder nicht zu leugnen und den Mut, einen autoritativen Erziehungsstil zu pflegen und Leistungsbereitschaft zu fördern – und, davon ist Lanfer überzeugt, die Weitergabe des Glaubens als Grund jeder Resistenz. Keinem der Widerstandskämpfer, so Lanfer, waren der Mut zur Verantwortung und zum Einstehen für ihre Überzeugungen in die Wiege gelegt, sondern mussten reifen – durch Erziehung und Selbsterziehung: „Zur Selbsterziehung den Grund gelegt zu haben, ist vielleicht die schönste Frucht erzieherischer Arbeit“ (Lanfer, S. 460). Erziehung beinhaltet ebenfalls ein humanes Versprechen, und zwar das Versprechen, dem anderen etwas zuzutrauen

Dass es dabei nicht um Rückwärtsgewandtheit geht, sondern um einen Konservatismus im besten Sinne der Bewahrung tragender Orientierungswerte, der gleichzeitig für Neues offen ist, macht Lanfer am Beispiel des Widerstandskämpfers und Reformpädagogen Adolf Reichwein deutlich. Der junge Akademieprofessor und Sozialdemokrat wurde 1933 zwangsenthoben und entwickelte in der brandenburgischen Provinz von Tiefensee eine eigene Reformschule, die verschiedene Stränge der Reformpädagogik miteinander verband. Im Kreisauer Kreis galt Reichwein, der 1944 – verraten durch einen Spitzel – im Zuge der Schauprozesse nach dem gescheiterten Hitlerattentat hingerichtet wurde, als Kultusministerkandidat in einer Regierung nach Hitler. Sein pädagogisches wie politisches Denken war stark durch die Ideale der Jugendbewegung geprägt: „Bei der Herausbildung der Jugend, die Reichwein zur Berufung wurde, ging es ihm nicht nur um Wissensvermittlung und Verstandesschulung, sondern um die Erziehung des ganzen Menschen, um Wertevermittlung und Charakterbildung. Hier zeigt sich Reichweins Beeinflussung durch die Jugendbewegung ebenso wie in seiner Bereitschaft, Andersdenkende zu akzeptieren und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Mit dieser Einstellung konnte er einen wichtigen Beitrag innerhalb des Kreisauer Kreises leisten, der sich vor der Aufgabe sah, die teils stark divergierenden Auffassungen und Visionen seiner Mitglieder einander anzunähern“ (Lanfer, S. 200).

Axel Bernd Kunze (Rez.)

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