Gregor Schorberger: Liebende diskriminiert und verurteilt. Römisch-katholische „175er“ und ihre Kirche, Stuttgart: W. Kohlhammer 2024, 258 Seiten.
1994 fiel im wiedervereinigten Deutschland der Paragraph 175 Strafgesetzbuch, der homosexuelle Handlungen unter Männern unter Strafe stellte; eingeführt wurde dieser im Deutschen Kaiserreich im Zuge der Rechtsangleichung von 1871. 2017 wurden Verurteilungen im Zuge dieses Paragraphen aufgehoben und die Betroffenen rehabilitiert.
In den Fünfzigerjahren des zwanzigsten Jahrhunderts erwies sich die katholische Kirche als starke Verteidigerin des genannten Paragraphen, eine eher unrühmliche Rolle spielte dabei nicht zuletzt der Sittlichkeitsverein „Volkswartbund“, der sich später allerdings von der katholischen Kirche löste. Bis heute dauert die innerkirchliche Diskussion über den Umgang mit Homosexualität an. Doch hat sich die Wahrnehmung deutlich verändert.
In Frankfurt am Main, Stuttgart oder Münster gibt es schwul-lesbische Gottesdienstprojekte; beim silbernen Jubiläum der Münsteraner Queergemeinde – zwischenzeitlich einmal mit einem Eucharistieverbot belegt – stand ein Weihbischof dem Festgottesdienst vor, die Jubiläumsfeier konnte im diözesanen Theologenkonvikt gefeiert werden. 2022 gründete sich die Initiative „#OutinChurch – Für eine Kirche ohne Angst.“ Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen in gleichgeschlechtlichen Lebensformen darf nach dem kirchlichen Arbeitsrecht nicht mehr ohne Weiteres gekündigt werden, wie die Generalvikare aus neunzehn Bistümern Anfang 2022 nach einer Fernsehdokumentation bestätigten. Mitarbeitern Und unter dem Motto „Wir lieben uns – welch ein Segen!“ hat das Bistum Rottenburg-Stuttgart im Juli 2025 eine Materialsammlung für Partnerschaftssegnungen jeder Art, darunter auch gleichgeschlechtliche Partnerschaften, vorgelegt. Das Bistum beruft sich dabei auf das Schreiben „Fiducia supplicans“ aus der Amtszeit von Papst Franziskus.
Aber es bleibt eine Menge aufzuarbeiten, wie Gregor Schorberger anhand der Lebensbilder von sieben Zeitzeugen – geboren zwischen 1929 und 1951 – in seinem Band „Liebende diskriminiert und verurteilt“ aufzeigt, teilweise in anonymisierter Form. Um der Betroffenen willen und um der historischen Aufrichtigkeit willen. Weihbischof Ludger Schepers und die Vizepräsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Birgit Mock, schreiben in ihrem Vorwort zu Schorbergers Studie: „Die in dem Buch beschriebenen Leben der sieben Zeitzeugen zeigt auf, dass eine neue Betrachtung auf Homosexualität in der katholischen Kirche möglich ist“ (S. 7). Und der Verfasser unterstreicht in seiner Einleitung mit einem Zitat des ehemaligen Kirchentagspräsidenten Andreas Barner: „Was nicht aufgearbeitet ist, wirkt weiter“ (S. 21).
Es geht um den innerkirchlichen Umgang miteinander, um einen theologisch reflektierten Umgang mit sexueller Vielfalt und um ein verantwortliches Handeln der Kirchen nach innen und außen – und dies, wie Schorberger einleitend schreibt, gerade auch angesichts der aktuell wieder zunehmenden gesellschaftlichen Gewalt gegenüber Homosexuellen. Wichtig wäre allerdings, dass die Kirche die Kraft zu einem verantwortlichen Umgang mit Homosexualität aus eigener theologischer Tiefe findet – und nicht allein aus der affirmativen Übernahme aktueller kultur- und sozialwissenschaftlicher Theorien. Dann könnte die Kirche vielleicht auch im Sinne gesellschaftlich-kultureller Diakonie dazu beitragen, Polarisierung im öffentlichen Diskurs nicht zu replizieren oder sogar zu verstärken, sondern auflösen zu helfen.
Schorbergers Studie kann hierzu beitragen. Denn der erste Schritt theologischer Reflexion ist und bleibt das Hinhören auf die Erfahrungen Betroffener.
Wer sind die sieben Zeitzeugen, die im Band zu Wort kommen? Karl Greth trat nach nicht ganz fünfzig Jahren wieder in die katholische Kirche ein – durch Kontakt mit dem Frankfurter Projekt schwul + katholisch, über das Schorberger promoviert hat (veröffentlicht 2013 unter dem Titel „schwul + katholische. Eine christliche Gottesdienstgemeinschaft“). Siegfried Schneider (anonymisiert) engagierte sich seit Kriegsende in der Frankfurter Schwulenbewegung und trat 1970 aus der Kirche aus. Bundesanwalt Manfred Bruns, bekannt durch seinen politischen Einsatz im Lesben- und Schwulenverband wie in der Ökumenischen Arbeitsgruppe Homosexuelle und Kirche, machte die Erfahrung, dass ihm das Erzbistum Freiburg die Exkommunikation androhte. 1985 trat er dann – wie er selber es verstand – aus der Körperschaft des öffentlichen Rechts, nicht aber aus der katholischen Kirche als solcher aus. Hans-Joachim Hassemer tat dies 1983, entschloss sich aber 2015 zum Wiedereintritt und nimmt heute mit seinem Partei offen am Pfarreileben seines neuen Wohnortes teil. Peter H. (anonymisiert) erlitt durch einen nächtlichen Überfalle in lebenslanges Trauma. Er war Mitorganisator der ersten bundesweiten Homosexuellendemonstration 1972 auf dem Münsteraner Domplatz und ist heute Mitglied der dortigen Queergemeinde. Thomas Wagner, 2014 wieder in die Kirche eingetreten, hat sich publizistisch immer wieder mit dem Verhältnis der Kirche zu Homosexuellen beschäftigt, politisch u. a. engagiert in der Arbeitsgruppe „Verfolgung von Homosexuellen von 1933 – 1993 im Saarland“. Und schließlich: Alois Kannenmacher (anonymisiert), Diakon und Bistumsarchivar, der über berufliche Diskriminierung durch seinen kirchlichen Dienstgeber berichtet – und dennoch seinen eigenen Glaubensweg geht, den Schorberger so skizziert „Im Bewusstsein, von Gott geliebt zu sein und der daraus resultierenden Selbstannahme ist sein seelsorglicher Wille, auch andere Menschen die Liebe Gottes im Namen Jesu spüren zu lassen und sie zur Selbstannahme und Freiheit zu ermuntern, seine Hauptantriebsfeder“ (S. 195).
Schorberger gibt den Portraits sprechende Namen: Der Zeuge, Der Couragierte, Der Menschenanwalt, Der Liebende, Der Suchende, Der Prophet, Der Diakon. Ein umfangreicher Anhang dokumentiert zeithistorische Quellen und Briefe zur innerkirchlichen Auseinandersetzung über den Umgang mit Homosexualität. Auch wenn Schorberger dabei selber Akteur ist, lässt er die notwendige Distanz zur zeitgeschichtlichen Forschung nicht vermissen.
Die vorliegende Studie liegt quer zu den theologischen Disziplinen. Sie kann sowohl der kirchlichen Zeitgeschichte und Pastoraltheologie als auch der Moraltheologie und Aszetik wichtige Impulse liefern.
Axel Bernd Kunze (Rez.)