Impulsvortrag aus einer Onlinebuchvorstellung am 23. September 2024:
Oleg Dik, Jan Dochhorn, Axel Bernd Kunze: Menschenwürde im Intensivstaat? Theologische Reflexionen zur Coronakrise (Philosophie interdisziplinär; 54), Regensburg: S. Roderer 2023, 258 Seiten.

„Die Gesellschaft ist in vielen Punkten tief gespalten. Die Kirchen könnten ihre Erfahrungen für die großen Werte von Vergebung und Versöhnung einbringen und helfen, ein neues Miteinander zu gestalten.“ – so der Theologe Thomas Arnold Anfang September in der Wochenzeitung „Christ in der Gegenwart“. Ist das wirklich so? Sicher, das Land ist gespalten. Ein Grund liegt in der Coronapolitik, die wir erlebt haben. Doch von den Kirchen ist bis heute wenig Versöhnendes zu erwarten. Die Kirchen, die Theologie im Allgemeinen und meine Disziplin, die Sozialethik, im Besonderen haben geschwiegen oder mitgemacht. Sollten nicht gerade Theologen mehr zu sagen haben angesichts einer Politik, die unser Menschenbild und Staatsverständnis, unser Freiheitsbewusstsein und Moralverständnis, unser Leibverhältnis und unsere Personwürde deutlich herausfordert?
An dieser Stelle möchte ich zwei Beiträge vorstellen, die ich für den Band beigesteuert habe. Der eine macht den Auftakt und fragt danach, warum es uns so schwer gefallen ist, über die Wert- und Freiheitskonflikte der Coronazeit öffentlich angemessen zu sprechen. Der andere schließt den Band ab und wagt einen Ausblick, wie eine Neugründung unseres Verfassungsstaates gelingen könnte. Ich werde dabei in weiten Teilen Auszüge aus den beiden Beiträgen des Bandes vorstellen.
1. Gesprächsstörungen. Eine sozial- und bildungsethische Ursachensuche im Angesicht der Coronakrise
Zum Anliegen des Beitrags: „Viel öffentliches Vertrauen ist durch eine Coronapolitik, die nach Ansicht des ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, „ziemlich irrational, widersprüchlich, kopflos und im Übermaß reagiert hat“, zerstört worden. Krisen legen Fehlentwicklungen schmerzlich offen. […] Dabei geht es im Folgenden nicht um eine inhaltliche Abwägung ethischer Dilemmata der Coronapolitik. Vielmehr geht es um eine Ursachensuche, warum der Umgang damit im öffentlichen Diskurs so schwerfällt.“
Vorausgesetzt wird dabei: 1. „Die Freiheit des Einzelnen findet ihre Grenze an der Freiheit des anderen. Eingriffe in zentrale Grundfreiheiten sind nur um der Freiheit willen zulässig, wenn dadurch das Gesamt an Grundfreiheiten gestärkt wird – so das Selbstverständnis des freiheitlichen Rechtsstaates. […] Die legitimen Begrenzungen äußerer Freiheit effektiv durchzusetzen, ist eine politisch-rechtliche Aufgabe. Diese zu rechtfertigen, bleibt eine moralische Herausforderung. Auch dann, wenn bestehende Rechtsgrundsätze zur Rechtfertigung angezielter Freiheitsbeschränkungen angeführt werden, können diese universale Geltung auf Dauer nur unter der Bedingung beanspruchen, dass sich ein moralischer Grund für die herangezogenen rechtlichen Gründe anführen lässt.“
2. „Eine aufgezwungene Moral verkehrt sich ins Gegenteil: Sie stärkt nicht das gesellschaftliche Ethos und führt nicht zu sozialen Tugenden, sondern zu Anpassung und Camouflage. […] Die Impfpflichtdebatte bietet reiches Anschauungsmaterial, was passiert, wenn die Politik eine bestimmte Gewissensentscheidung zu erzwingen versucht. Wissenschaftliche Argumente, die dabei angeführt werden, widerlegen sich selbst, wenn ihre Geltung durch Zwang oder Nötigung durchgesetzt werden muss.“
„Da bemühen wir uns in Deutschland seit Jahrzehnten um saubere Gesetzestechnik, filigrane Grundrechtsdogmatik bzw. korrekte und grundrechtsschonende Rechtsanwendung – und beim ersten bösen Pandemiefall rutschte das alles direkt und komplett weg.“ – so war es 2021 in der Zeitschrift „Recht und Politik“ zu lesen. Der Beitrag benennt im Weiteren sieben Gesprächsstörungen, die sich im öffentlichen Coronadiskurs zeigten und einen autoritären biopolitischen Neokollektivismus beförderten:
- ein mangelndes Gespür für gravierende Wertkonflikte,
- eine mangelnde Unvoreingenommenheit, die sich bemüht gegensätzliche Positionen vor dem Selbstverständnis des anderen wahrzunehmen,
- eine mangelnde Streitkultur,
- mangelnde Pluralitätsfähigkeit und Ambiguitätstoleranz,
- ein mangelndes Methodenbewusstsein,
- eine mangelhafte Unterscheidung zwischen wissenschaftlicher Expertise und politischer Entscheidung und
- ein mangelndes Wertgefühl für die Bedeutung von Vertrauen und Identität.
Wissensbasierte Asymmetrien werden heute schnell in moralische umgeleitet: „Ein bestimmter Sprachkode, die Bindung an eine bestimmte Agenda oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppierung schieben sich in den Vordergrund. […] [Ethische Vorrangregeln] erfüllen […] eine kommunikative Funktion, indem mit ihrer Hilfe die Entscheidung für eine bestimmte Handlungsoption nachvollziehbar begründet und argumentativ vermittelt werden kann.“ Affektgeleitete Entscheidungen verweigern sich der vergleichenden Abwägung und rationalen Begründung: „Der Abweichler wird moralisch unter Druck gesetzt, nicht aber als moralisch produktives, zur Selbstbestimmung fähiges, eigenverantwortliches Subjekt ernstgenommen. Mit Solidarität hat dies wenig zu tun, auch wenn die Coronapolitik einen solchen Eindruck erwecken wollte.“
Selten sind Freiheitseingriffe so nah und existentiell erlebt worden wie bei der Kontroverse um die Impfpflicht. Staatsverständnis und Menschenbild stehen damit gleichermaßen auf dem Prüfstand. Unsere Leiblichkeit wurde zu einer vom Staat und von unserer sozialen Umgebung zu vermessenden Größe gemacht. Das Gefühl, nicht mehr frei über den inneren Kernbereich der eigenen Persönlichkeit bestimmen zu können, wirkt verletzend – für viele bis heute.
Mit welchen Folgen? „Wenn Bürger nicht mehr glauben, Teil desselben Gemeinwesens zu sein und in ihren Rechten geachtet zu werden, kann das Zusammenleben auf Dauer nicht gelingen – oder nur um den Preis, vermehrter staatlicher Kontrolle, Regulierung und Steuerung. […] Die integrative Kraft einer gemeinsamen Identität zeigt sich mitunter erst dann, wenn andere Mechanismen versagen. […] Unsere ethischen Grundorientierungen werden in einer Ausnahmesituation einem Stresstest ausgesetzt. Doch auch in einer Ausnahmesituation bleibt die kritische Reflexion über Moral auf eingeführte ethische Kriterien angewiesen. Zentrale Grundprinzipien ethischer Abwägung und Entscheidungsfindung sind etwa die Kriterien der sachlichen Angemessenheit, Widerspruchsfreiheit oder Verhältnismäßigkeit. Versuche hingegen, aus der Lage heraus aktuelle ‚Sonderethiken‘ zu schaffen, verschärfen eine Krise und können schnell auf Abwege führen. Denn wo sich der Rechtsstaat ohne Not vorschnell in einen Notrechtsstaat wandelt, wird eine Politik effektiver und rationaler Krisenvorsorge und Gefahrenabwehr gerade nicht gestärkt – im Gegenteil. […] Wo sich aber Krisenmaßnahmen nicht mehr auf Einsicht in ihren Sinn und ihre Notwendigkeit stützen können, muss der Staat zunehmend Druck aufbauen, ein Klima der Angst erzeugen und Gefolgschaft erzwingen. Sollen hingegen grundlegende Sicherungen des Rechts und der Humanität nicht preisgegeben werden, müssen neue Herausforderungen und Krisen im Rahmen bewährter rechtsstaatlicher, verfassungspolitischer und ethischer Traditionen bewältigt werden. Das wäre auch in der Coronakrise möglich gewesen, wenn man es ernsthaft gewollt hätte.“
Doch die Politik hat in weiten Teilen einen anderen Weg eingeschlagen. Dies hat tiefergehende Gründe, die nicht allein sozialstaatlicher Natur sind, sondern Fragen des Kulturstaates berühren. Den „Kultur und Humanität sind keine sicheren Besitzstände. Sie zu erhalten, verlangt immer wieder neue, ernsthafte Bildungsanstrengungen.“
Eine bildungsethische Diagnose: „Die moralische Krise, die sich angesichts der Herausforderungen durch COVID-19 zeigte, erweist sich in Teilen als Bildungskrise. […] Wo das Leistungsprinzip verkommt und Bildung allzu häufig auf ihre äußere soziale Seite und damit auf eine soziologisch beschreibbare Anpassungsleistung reduziert wird, verliert das öffentliche Gespräch an Tiefe und Niveau: […] Auf der einen Seite werden Bedingungen wissenschaftlicher Erkenntnisbildung unrealistisch eingeschätzt, so als könnten etwa verlässliche Impfstoffe möglichst rasch entwickelt und auf den Markt gebracht werden. Auf der anderen Seite wird das öffentliche Gespräch moralisierend aufgeladen. Denn wo ein differenziertes, streitbares Gespräch nicht mehr möglich ist, greifen Strategien der Vereinfachung, Banalisierung, Pauschalisierung, Etikettierung, Emotionalisierung oder moralisierender Aggressivität um sich. Verstärkt werden diese Tendenzen durch die Abneigung, kulturelle Erwartungen und Ansprüche verbindlich einzufordern. Wo aber Geltungsansprüche nicht mehr zugelassen werden, ersetzt am Ende Aktion die Reflexion. Die rationale Abwägung wird durch Aktivismus abgelöst. Ein solcher schlägt schnell in Gewalt um, da gehandelt, aber das Handeln nicht mehr als begründet ausgewiesen wird. Auf Dauer erstirbt die Achtung vor dem freien Subjekt. Auch Verstöße gegen das aus dem Beutelsbacher Konsens bekannte Überwältigungsverbot und Kontroversitätsgebot im öffentlichen Moraldiskurs sind Formen kommunikativer Gewalt.
Biopolitische Sicherheit bleibt ein fragiles Gut, gerade in einer globalisierten Welt. Wir täten gut daran, die geistig-moralischen Ressourcen für einen rationalen Umgang mit Bedrohungen zu pflegen, damit wir für mögliche künftige Krisen besser gerüstet sind.
2. Intensivstaat und zivilgesellschaftliche Staatsbedürftigkeit. Sozial- und freiheitsethische Betrachtungen zum Staatsverständnis (nicht nur) in Coronazeiten
Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass Menschen unter der Signifikanz eines Naturereignisses sehr wohl und sehr rasch eine neue kollektive Praxis hervorbringen können, gewiss auf Drängen und mit Hilfe staatlicher Intervention.“ – so Udo Di Fabio Ende 2020 in der FAZ. Noch 2019 hatte der ehemalige Bundesverfassungsrichter erklärt, politische Herrschaft könne heute nicht mehr in erster Linie vom Staat her gedacht werden, „weil die Institution des Staates ihre kategoriale Dominanz und die von ihr ausgehende explanative Kraft eingebüßt hat.“ In der Coronazeit drohte ein Zerrbild durch ein anderes ersetzt zu werden: Der Maßnahmenstaat war geboren. Nicht mehr eine zuvor vielfach zu beobachtende sozialwissenschaftliche und sozialethische Staatsvergessenheit gab den Ton an. Im Gegenteil: Die Zivilgesellschaft entdeckte ihre Staatsbedürftigkeit. Ja, mehr noch: Auf einmal war der Staat wieder da, in der Coronakrise waren Grenzschließungen möglich, wurden pauschale Eingriffe des Staates in Grund- und Menschenrechte von einer Mehrheit widerspruchslos akzeptiert. Stephan Bröcher sprach im „Tagesspiegel“ von einem „Intensivstaat“. Der zweite Beitrag folgt einem dreischrittigen Gedankengang:
1. Verwerfungen: Welche Verwerfungen auf dem Weg zum autoritären „Intensivstaat“ drohen, wird anhand der sozialethischen Debatte um eine moralische Impfpflicht diskutiert. „Mit dem Bestreben, die Frage nach einer Impfpflicht von der rechtlichen auf die moralische Ebene zu verlagern, sollte innerhalb der sozialethischen Debatte nicht selten der Eindruck erweckt werden, eine moralische Impfpflicht sei schonender, verbunden mit der Hoffnung, die Debatte so zu befrieden und eine weitergehende Polarisierung zu vermeiden. Dies ist keineswegs der Fall. So kann sich der Einzelne einer Rechtspflicht, der er sich äußerlich, wenn auch vielleicht widerstrebend und ungern, unterwirft, innerlich entziehen. Bei einer moralischen Pflicht gelingt das nicht. Einer inneren Distanzierung ist die notwendige Freiheit hierzu entzogen, weil durch Rekurs auf das Gewissen dem Einzelnen die Freiheit zur individuellen Abwägung gerade genommen und das Gewissensurteil zu einer bereits außerhalb getroffenen, sozialethisch-politischen Entscheidung verkehrt wird. Das Gewissen, das sich für die freie Impfentscheidung ausspricht, wird in letzter Konsequenz zum irrenden Gewissen erklärt.“ […] „Das Beste verdirbt, wenn die freie Wahl zum Guten institutionalisiert und kollektiviert wird. Es besteht dann immer die Gefahr, die moralische Forderung dem anderen zu seinem eigenen vermeintlich Besten an den Kopf zu werfen. Es geht dann nicht mehr um die Unterscheidung zwischen gut und böse, sondern die bloße Einhaltung einer sozialen Norm wird zum Wert an sich. Wo die freiwillig und verantwortlich getroffene Antwort des Einzelnen auf eine ethische Herausforderung durch verallgemeinerte Regeln ersetzt wird, droht die Gefahr, dass diese zur Ideologie werden. Gemeint ist ein Diskursgebrauch, der politisch mobilisieren will, und dabei instrumentalisiert, zuspitzt, vereinfacht. Eine pervertierte Logik der moralischen Entscheidung kann die Folge sein, wie sich in der Impffrage gezeigt hat. Statt eine moralische Pflicht über den Weg einer sorgfältigen Güter- und Übelabwägung zu prüfen, wird die Konklusion bereits am Anfang festgesetzt: Eine moralische Impfpflicht sollte bestehen, da eine rechtliche abgelehnt oder nicht für durchsetzbar gehalten wird. Entsprechend müssen die Prämissen nur noch passend vorangestellt werden, um zum gewünschten Ergebnis zu kommen: Zum einen bestehe eine Pflicht, den anderen zu schützen. Zum anderen garantiere die neue, vermeintlich weitgehend nebenwirkungsfreie Impfung einen sehr guten Schutz.“
2. Reflexionen: „Das Pflege- und Gesundheitssystem vor Überlastung zu schützen, ist eine politische Aufgabe. […] Statt in die Grundrechte der Bürger einzugreifen und einen autoritären Zwangsstaat herbeizureden, sollten politisch Verantwortliche wie Öffentlichkeit fragen, wie künftig eine rationale Krisenvorsorge-, Katastrophen- und Zivilschutzpolitik aussehen kann. Dabei wäre beispielsweise auch eine pandemiebegründete, notfallmäßige und zeitlich begrenzte Zwangsbewirtschaftung von Intensivbetten durchaus nicht auszuschließen (was allerdings voraussetzt, dass Politik und Verwaltung grundsätzlich zu einem zielgenauen und effektiven Krisenmanagement in der Lage sind, woran ein dysfunktionales Staatshandeln durchaus Zweifel nährt).“
Dem freiheitlichen Rechts- und Verfassungsstaat fällt im Rahmen des von ihm zu leistenden Rechtsgüterschutzes nur eine begrenzte Gewährleistung mittelbarer Moralität zu. Der Staat muss um die Grenzen seiner eigenen Wirksamkeit wissen. Denn wo der säkulare Staat immer größere Bereiche der Gesellschaft seiner Steuerung unterwerfen und die vom Recht geschützte Wertordnung zunehmend auf zivilreligiöse Weise zum Zweck seiner Selbststabilisierung einsetzen wollte, müsste er nicht allein Rechtsloyalität einfordern, sondern zunehmend die Gesinnung seiner Bürger kontrollieren. Aktuell bleibt die Warnung des verstorbenen Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Fundamentalismus kann auch in der Form von Wertordnungsfundamentalismus auftreten.“
Und die Rolle der Sozialethik? „Sich am demokratischen Diskurs mit belastbarer ethischer Expertise ernsthaft zu beteiligen, wäre für die theologische Sozialethik und kirchliche Sozialverkündigung eine wichtige Aufgabe politisch-gesellschaftlicher Diakonie, gerade in Krisenzeiten. In einem Debattenklima, in dem entscheidende Grundfreiheiten der Verfassungsordnung auf dem Spiel stehen und immer drastischere Maßnahmen diskutiert werden, hätte Sozialethik zudem die Aufgabe, den politischen Akteuren einen Notausgang zu öffnen, sodass ein Rückzug aus der Sackgasse zunehmender Polarisierung und Gesprächsvergiftung gesichtswahrend möglich wird. Davon war allerdings nichts zu erkennen.“
Zwei Seiten einer Medaille gehören zusammen – einerseits der Staat: „Das Recht kann überfordert werden, wenn es mit Superlativtatbeständen aufgeladen wird. Ein Rechtsstaat, der Gesundheitsschutz zur obersten oder sogar absoluten Priorität erklärt, muss zwangsläufig scheitern, auf Kosten der Freiheit. Wo unterschiedliche Zieldimensionen menschlichen Lebens nicht mehr der Abwägung für wert gehalten werden, sondern ein Ziel absolut gesetzt wird, verfehlt der freiheitliche Rechts- und Verfassungsstaat ein wesentliches Element seiner selbst: den Anspruch, einen Ausgleich zu schaffen zwischen unterschiedlichen, mitunter auch konträren Interessen oder sozialethischen Orientierungswerten, welche das Leben seiner Bürger bestimmen.“ – Andererseits: Die Gesellschaft dankt ab. „Der übergriffige Staat legitimiert sich nicht unwesentlich durch die Autoritätshörigkeit seiner Bürger, die nicht selten durch umfassende Transfers und Subventionen erkauft ist. Der Preis hierfür ist in Form wachsender Staatsverschuldung und einer Entmündigung der Gesellschaft zu entrichten. Umgekehrt fördert bürgerlicher Irrglaube, der Staat sei übermächtig, ein wachsendes Maß an staatlicher Steuerung und staatlichen Eingriffen.“
Von einer Aufarbeitung, gar Aussöhnung ist gegenwärtig wenig bis nichts erkennbar. Erschwerend kommt hinzu, dass in der Coronakrise nahezu alle politischen, gesellschaftlichen und auch kirchlichen Akteure Partei geworden sind – und damit komme ich zum Schluss:
3. Perspektiven: „Ein künftiger Aussöhnungsprozess wird keinesfalls als Dialog auf Funktionärsebene gelingen, sondern betrifft die Allgemeinheit bürgerlich-demokratischer Öffentlichkeit. Es braucht eine Selbstermächtigung der bürgerlichen Gesellschaft, aus deren Mitte heraus sich glaubwürdige Akteure finden müssen, die einen solchen Prozess anstoßen, moderieren und begleiten. Vielleicht ist es gar nicht so abwegig, an die Runden Tische der Wendezeit vor etwas mehr als dreißig Jahren zu erinnern. Eine Politik, die bewusst auf Polarisierung und Ausgrenzung, Druck und Zwang gesetzt hat, wird nicht politisch überwunden werden können, sondern nur durch ein gesellschaftliches Ethos, das gewillt ist, die damit verbundenen Erfahrungen unvoreingenommen zu befragen, gemeinsam zu werten und daraus Schlüsse für eine veränderte politisch-soziale Praxis abzuleiten.“
Erhellend für dieses Kapitel waren nicht zuletzt Überlegungen Axel Montenbruck, der sich in einem Band mit Versöhnung und Humanität aus juristischen Perspektiven auseinandergesetzt hat.
Antworten werden im freiheitlich-widerständigen Potential echter Bürgerlichkeit zu suchen sein, wie es etwa Norbert Bolz im Anschluss an den Philosophen Odo Marquard stark macht. Es braucht einen neuen Mut zur Bürgerlichkeit, der sich einer politischen Vereinnahmung des Einzelnen und seiner sozialen Praxis selbstbewusst entgegenstellt und bereit ist, sich Freiräume wiederzuholen. […] Gerade in Deutschland wird der notwendige Aussöhnungsprozess nicht leicht fallen, da hierzulande wenig Erfahrung mit zivilreligiösen oder identitätsstiftenden Ritualen besteht, auf der aufgebaut werden könnte. […] Hoffentlich werden sich am Ende dieser moralischen Krise noch genügend Einzelne mit bürgerlichem Selbstverständnis finden, die eine ethische Neugründung unserer Wert- und Verfassungsordnung anzustoßen bereit sind. Kleiner geht es jedoch nicht. Denn es braucht eine selbstbewusste, mutige, am Freiheitsideal orientierte bürgerliche Öffentlichkeit, die sich schützend vor die Verfassung stellt, sich kollektivistischen Zumutungen entgegenstemmt und in der streitbar um das bessere Argument gerungen wird, jenseits politischer Nötigung und jenseits der Vereinnahmung des Einzelnen durch übermächtige gesellschaftliche Kollektive – dies alles aus dem Bewusstsein heraus, dass der Gemeinschaft so am besten gedient ist.“
„Gewissensfragen werden nur dort erkannt, wo auch ein klares Bewusstsein und differenziertes Verständnis für individuelle Freiheit lebendig ist. Beides gilt es zu verteidigen gegen einen sozialen Freiheitsbegriff, wie er immer häufiger eingefordert wird. […] Wenn wir Freiheit sozial konstruieren, entscheiden am Ende Kollektive, seien es Parteien, Gremien, Impfkommissionen oder andere Agenturen, darüber, welchen Gebrauch wir überhaupt noch von unserer Freiheit machen dürfen. Doch nicht die Inanspruchnahme von Freiheit ist rechtfertigungsbedürftig, sondern deren Einschränkung um des Gesamtsystems der Freiheit willen. […] Ein sozialer Freiheitsbegriff macht Freiheit zu einer Funktion der Gerechtigkeit und versteht unter Freiheit am Ende nur noch sozialstaatliches Anspruchsdenken, erstickt aber jene bürgerliche Produktivität und Kreativität, die unsere Gesellschaften einmal groß gemacht haben.“
„Konformismus arrangiert sich. Wo sich Konformismus ausbreitet, haben Reue und Scham, Gewissen und Eigensinn, Treue und Eigenverantwortung, Augenmaß und Skepsis einen schweren Stand. Diese Tugenden wiederzuerwecken, wäre ein erster Schritt, den notwendigen Prozess der Aufarbeitung und Aussöhnung einzuleiten.“
(soweit nicht anders angegeben, sind die Zitate aus dem vorgestellten Band entnommen)