Vortrag: Erziehen als Beruf – zwischen Betreuung und Bildung

Vortrag auf der Fachtagung „Die Zukunft evangelischer Kitas gestalten. Einsichten und Impulse im Dialog mit dem aktuellen Bildungsbericht ‚Evangelische Tageseinrichtungen für Kinder'“ des Comenius-Instituts Münster (13. September 2024, Tagungshotel Dunant, Münster/Westf.):

Der gravierende Fachkräftemangel in der Kindertagesbetreuung ist Symptom eines gesellschaftlichen Wandels in den vergangenen drei Jahrzehnten, der politisch nicht vom Himmel gefallen ist. Der folgende Impuls will vor allem auf die berufs- und professionalisierungspolitischen Folgen eingehen, die damit einhergehen.

I. Ein Blick zurück …

Mit der Wiedervereinigung übernahmen im Zuge der Rechtsangleichung die beigetretenen Bundesländer den bundesdeutschen Paragraphen 218 StGB; damit endete die bis dahin in der DDR für Abtreibung geltende Straffreiheit. Nach kontroversen öffentlichen Debatten verständigte man sich 1995 auf einen Kompromiss, wonach Abtreibung zwar strafbar bleibt, aber unter bestimmten Bedingungen nicht verfolgt wird. Gleichzeitig sollte die Vereinbarkeit  von Familie und Beruf erleichtert werden; und Frauen sollten darin bestärkt werden, ein ungeborenes Kind auch auszutragen. So wurde die Kindertagesbetreuung ausgebaut und 1996 ein Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz für Kinder ab drei Jahren eingeführt. Mittlerweile sind die Rechtsansprüche weiter ausgeweitet worden.

Eine verstärkte Nachfrage nach Kindertagesbetreuung setzte in den westlichen Bundesländern  allerdings erst mit dem sogenannten „PISA-Schock“ zu Beginn der 2000er Jahre ein. Im Zuge der damals beginnenden Bildungsreformdebatte wurde die empirische Bildungsforschung ausgebaut, zugleich entstanden aber auch ein eigenständiger sozialethischer Bildungsdiskurs und eine menschenrechtsethische Diskussion über Gehalt und Grenzen eines Rechts auf Bildung und dessen Umsetzung hierzulande.

Das Recht auf Bildung in seiner überkommenen positivierten Form umfasst zunächst einmal keinen Anspruch auf Elementarbildung. Gleichwohl ist in der jüngeren Bildungsreformdebatte immer wieder angemahnt worden, dass dieses Recht nur dann umfassend verwirklicht werden könne, wenn sein Gehalt auch auf die Bildungsbiographie vor der Einschulung ausgedehnt werde. Prominent wurde diese Forderung nicht zuletzt durch den Deutschlandbesuch des seinerzeitigen Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen für das Recht auf Bildung, Vernor Muñoz Villalobos, im Jahr 2006. In seinem Bericht, den er ein Jahr später dem Menschenrechtsrat in Genf vorlegte, forderte der UN-Vertreter eine vermehrte und zugleich kostenfreie Vorschulbildung für Deutschland.

II. Das Bildungsverständnis der Elementarbildung

Der Gemeinsame Rahmen der Länder für die frühe Bildung in Kindertageseinrichtungen, den die Kultusministerkonferenz 2004 verabschiedet hat, schreibt den Kindertageseinrichtungen einen eigenständigen Bildungsauftrag zu. Damit gehen vor allem zwei Erwartungen einher.

Ein Recht auf Bildung wird sich nur dann umfassend verwirklichen lassen, wenn auch der frühkindlichen Bildung und Förderung verstärkt Beachtung geschenkt wird, bevor sich Benachteiligungen und Förderbedarf verfestigt haben. Mit der Betonung eigenständiger Bildungsansprüche der Kinder sollen diese stärker als bisher als selbständige Subjekte anerkannt und deren rechtlich begründete Beteiligungsansprüche ausgeweitet werden.

Mit einer Stärkung des Bildungsbegriffs  verband sich überdies von Anfang an die Hoffnung auf eine frühpädagogische Professionalisierung. Mit dem Bildungsbegriff werden Tageseinrichtungen für Kinder stärker an die Institutionen des Bildungssystems gebunden.

Für die Akteure in diesem Feld stellen sich damit zwei Herausforderungen: Zum einen wird, soll der frühkindliche Bereich nicht „verschult“ werden, auf die Eigenständigkeit einer Elementarbildung zu achten sein, ebenso aber auch auf deren Anschlussfähigkeit an die Grundschulbildung. Zum anderen wird zu fragen sein, wie sozialpädagogische und Bildungsaufgaben fruchtbar miteinander verknüpft werden können, ohne dass Bildung ein sozialpolitisches Mittel zum Zweck wird oder die sozialpädagogische Arbeit nur noch als Lieferant für Lernanlässe gefragt wäre.

Der genannte Gemeinsame Rahmen der Länder für die frühe Bildung in Kindertageseinrichtungen, auf dem die Orientierungs-, Rahmen- oder Bildungspläne für den Elementarbereich in den einzelnen Ländern aufbauen, verzichtet bewusst auf eine Abgrenzung zwischen Bildung und Erziehung: „Der Bildungsprozess des Kindes umfasst alle Aspekte seiner Persönlichkeit. Bildung und Erziehung werden als ein einheitliches, zeitlich sich erstreckendes Geschehen im sozialen Kontext betrachtet.“Zwischen den Zeilen ist die Warnung vor einer „Verschulung“ des Kindergartens herauszulesen. Vermieden werden soll ein Bildungsverständnis, wie es schulischer Didaktik zugrunde liegt, bei der die Auseinandersetzung zwischen Lernenden und Lehrenden immer primär über einen methodisch strukturierten Bildungsinhalt verläuft.

In der Elementardidaktik soll sich der „Prozess der Weltaneignung“ – wie Bildung im Gemeinsamen Rahmen umschrieben wird – vorrangig aus sozialen Situationen ergeben, also alltagsbasiert erfolgen: „Eine Fächerorientierung oder Orientierung an Wissenschaftsdisziplinen ist dem Elementarbereich fremd. Eine Beschreibung von Themenfeldern, in denen sich kindliche Neugier artikuliert, aber ist sinnvoll, weil sie die Angebote der Kindertageseinrichtung konkretisiert.“Der kokonstruktivistische Mainstream der elementarpädagogischen Bildungspläne folgt einem umweltbezogenen Entwicklungsverständnis. Bildung und Erziehung geschehen über die lern- und entwicklungspsychologisch angemessene Gestaltung von Beziehungen, Situationen, Zeiten und Räumen.

Gerade in Zeiten eines bis auf Weiteres fortbestehenden Fachkräftemangels wird es darauf ankommen, den Bildungsanspruch von Kindertageseinrichtungen zu verteidigen. Soll ein qualitativ hochwertiges Angebot frühkindlicher Bildung, Erziehung und Betreuung gesichert bleiben, sind die pädagogischen Leistungen von Kindertageseinrichtungen aus einer bildungsbestimmten Perspektive zu bestimmen. Dabei werden sich Querbezüge zwischen Bildungs- und Sozialpolitik zeigen. Doch bleibt die Sicherung einer sozialstaatlich angemessenen und leistungsfähigen Betreuungslandschaft eine politische Aufgabe, die nicht mit dem Bildungs- und Erziehungsauftrag von Kindertageseinrichtungen verwechselt werden darf. Politische, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Probleme werden grundsätzlich nicht über Bildung gelöst werden können. Deren Aufgabe bleibt die Ausbildung einer selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Persönlichkeit, und zwar über Stärkung der praktischen Urteilskraft.

Festzuhalten bleibt aber auch, dass nicht alles, was Kindertageseinrichtungen sozialpädagogisch leisten, an deren Bildungsauftrag angehängt werden kann, gerade dann nicht, wenn die Momente der Selbsttätigkeit und aktiven Verarbeitung im Bildungsprozess nicht unterbestimmt bleiben sollen. Kindertageseinrichtungen haben aus guten Gründen einen historisch gewachsenen, eigenständigen pädagogischen Auftrag, der sich deutlich vom Auftrag des Schulwesens abhebt.

Alltagsintegrierte Erziehung und Förderung setzen sozialpädagogische Kompetenzen voraus, die nicht vollständig durch ein bildungsbezogenes Selbstverständnis absorbiert werden sollten. Für die Pädagogik der Kindheit ergibt sich die Aufgabe, pädagogische Konzepte für die Verschränkung bildungsorientierter Zugänge einerseits und sozialpädagogischer Zugänge andererseits zu entwickeln. Wenn dies gelingt, könnten sich frühe Bildung, frühzeitige Förderung und sozialpädagogische Unterstützung, Kompetenzerwerb und pädagogisch anspruchsvolle Betreuung wechselseitig verbinden und gegenseitig befruchten.

Wenn dies pädagogisch gelingt, wird dabei auch der Prozess wachsender Grundschulbetreuung profitieren. Gerade hierfür ist es wichtig, überzeugende Modelle für die Kooperation schulpädagogischer und sozialpädagogischer Professionen auf Augenhöhe zu entwickeln. Ein geklärter Bildungsbegriff für den Elementarbereich wird die hierfür notwendigen Kommunikations- und Austauschprozesse deutlich unterstützen.

III. Zwischenfazit

Der politisch angestoßene Ausbau der Kindertagesbetreuung war verschieden motiviert: Elementarbildung wurde zunehmend als erster wichtiger Schritt einer erfolgreichen Bildungskarriere betrachtet. Der Ausbau galt zudem als wichtiger Faktor für eine Stärkung des Wirtschaftsstandorts. Verbesserungen bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf sollten dazu dienen, dem stärker spürbar werdenden demographischen Wandel und der drohenden Erosion der Sozialsysteme entgegenzuwirken.

Der Ausbau der Kindertagesbetreuung folgte somit in starkem Maße wirtschaftlichen und sozialpolitischen Interessen. Der pädagogische Eigenwert einer gestärkten, auf Mündigkeit zielenden Elementarbildung blieb vielfach sekundär. Auf Bundesebene und einem Teil der Bundesländer liegt die Verantwortung für den Elementarbereich weiterhin bei den Sozial- und nicht bei den Kultusministerien. Die Kindertagesbetreuung gilt in Deutschland weiterhin stark als Teil des Hilfesystems für Familien, und nicht zwingend als integraler Bestandteil des Bildungssystems.

Die politischen und gesellschaftlichen Erwartungshaltungen, die an den Bereich der Kindertagesbetreuung herangetragen werden, sind vielfach außerpädagogischer Natur und entsprechen nicht dem genuin pädagogischen Selbstverständnis der evangelischen Ausbildungsstätten für Sozialpädagogik. Diese Erwartungen bedürfen in jedem Fall der eigenständigen pädagogischen Kontextualisierung. Dabei ist zu bedenken, dass der Fachkräftemangel Symptom von Entwicklungen und Erwartungen ist, die nicht allein der frühkindlichen Bildung zugerechnet werden können und auch nicht pädagogisch gelöst werden können.

IV. Folgen

Die Akteure in der Elementarbildung sehen sich einer Ambiguität gesellschaftlicher Erwartungen gegenüber: Einerseits soll primär eine verlässliche Betreuung sichergestellt werden; andererseits wird ein Bildungsauftrag formuliert. Bei verlängerten Betreuungszeiten werden Kindertagesstätten zu wichtigen Instanzen der Erziehung und Wertvermittlung. Diese Aufgaben erfordern weitreichendes pädagogisches und entwicklungspsychologisches Fachwissen sowie zeitliche und personelle Ressourcen. Letztere sind angesichts des deutlichen Fachkräftemangels knapp. Die Folgen zeigen sich nicht allein in einem verminderten Angebot an Betreuungsmöglichkeiten, sondern beeinflussen nicht zuletzt das Selbst- und Berufsverständnis Pädagogischer Fachkräfte.

Familien- und wirtschaftspolitische Folgen

Der Erziehungsauftrag von Kindertageseinrichtungen wächst, da ein nicht unerheblicher Teil der Eltern zunehmend weniger in der Lage ist, kontinuierlich erzieherisch tätig zu sein. Hieraus ergeben sich weitreichende Aufgaben für die Kindertageseinrichtungen, beispielsweise bei der Wertvermittlung, Sprachbildung, beim Umgang mit Heterogenität oder beim sozialen Lernen.

Eine kürzere oder unzuverlässige Betreuungszeit hat nicht allein Folgen für die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit und für die Teilhabe von Eltern am Arbeitsmarkt. Dies löst individuell Ängste vor gesellschaftlichem Abstieg und volkswirtschaftlich vor gesellschaftlichem Wohlstandsverlust aus. Genauso wichtig ist aber auch: Kindertagesstätten, die ihren Bildungsauftrag wegen fehlender oder mangelhaft ausgebildeter Fachkräfte nicht umsetzen können, können langfristig auch keinen Beitrag zur Gewinnung qualifizierter Fachkräfte leisten.

Pädagogische und entwicklungspsychologische Folgen

Damit sich Kinder angemessen entwickeln können, bedürfen sie stabiler Beziehungen und einer bildungsbegleitenden Unterstützung. Dass Kinder und Jugendliche in pädagogischen Moratorien aufwachsen und sich bilden können, ist eine Errungenschaft des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts. Die vorstehend benannte, durch Sparzwänge und Fachkräftemangel noch verstärkte Deprofessionalisierung gefährdet den Fortbestand der Gesellschaft, weil die nachwachsende Generation nicht die notwendige Unterstützung erhält, die sie braucht, um die für soziale Teilhabe und berufliche Unabhängigkeit notwendigen Kompetenzen auszubilden. Wenn wir die Aufgaben frühkindlicher Bildung vernachlässigen, wird uns dies über kurz oder lang gesellschaftlich und volkswirtschaftlich auf die Füße fallen.

Soziale und politische Folgen

Durch den Fachkräftemangel werden soziale Unterschiede verstärkt, da wohlhabendere Milieus Mängel in der öffentlichen Kindertagesbetreuung leichter ausgleichen können.  Kinder, die ein stabiles häusliches Umfeld genießen, mehr Zeit mit den Eltern verbringen und durch diese eine intensivere individuelle Förderung erhalten, werden wahrscheinlich einen höheren Bildungsgrad erreichen können als jene, die einer nicht hinlänglichen Förderung in ausgesetzt sind und deren Eltern weniger Zeit für ihre Erziehung und Begleitung haben.

Ob Kinder in der Schule gut lernen können, ist nicht allein eine Frage der Didaktik, sondern auch der erzieherischen Grundlagen. Im  Grundschulbereich, aber auch den weiterführenden Schulen ist schon heute sichtbar, dass die Zahl der Kinder mit sozial-emotionalen Verhaltensauffälligkeiten deutlich gestiegen ist. Dies zieht einen höheren Bedarf an Schulbegleitung, Schulassistenz, Schulsozialarbeit oder Teamteaching nach sich, damit der Unterrichtsbetrieb aufrechterhalten werden kann. Dies bindet finanzielle, aber auch personelle Ressourcen.

Erziehungs- und Bildungsdefizite in Kindheit und Jugend und damit einhergehende Folgen, z. B. für Emotionsregulation oder soziale Integrationsfähigkeit, können sich biographisch langfristig auswirken. Dies verringert dauerhaft die die sozialen Teilhabechancen, befördert gesellschaftliche Exklusion – mit weiterreichenden Folgen für politische Stabilität und gesellschaftlichen Frieden.

Berufs- und professionalisierungspolitische Folgen

Das Berufsethos Pädagogischer Fachkräfte basiert auf der Erziehung und Bildung der ihnen anvertrauten Kinder, deren Selbstbestimmungsfähigkeit und Mündigkeit gefördert werden sollen. Diese Arbeit ist äußerst anspruchsvoll und bedarf einer hohen Fachlichkeit. Sie bedarf der Zeit das einzelne Kind in seiner Entwicklung zu sehen und Bildungsprozesse anzuregen. Der steigende Bedarf an Kindertagesbetreuung aufgrund gesellschaftspolitischer Veränderungen und  des daraus resultierenden Fachkräftebedarfs führen dazu, dass Kindertageseinrichtungen die Erfüllung ihres Bildungs- und Erziehungsauftrag in hohem Maße erschwert wird. Dies hat zur Folge, dass immer mehr Fachkräfte überlastet und frustriert sind, da sie der primären Aufgabe, um derentwillen sie den Beruf gewählt haben, nicht mehr gerecht werden könne. Eine Abwanderung Pädagogischer Fachkräfte in andere Arbeitsfelder, eine hohe Fluktuation oder ein erhöhter Krankenstand sind sichtbare Folgen Es droht ein Ansehens- und Attraktivitätsverlust des Berufes.

V. Zukunftsoffenheit

Durch den Fachkräftemangel verändert sich in der öffentlichen Diskussion der Auftrag der Kindertagesstätten. Der Erziehungs- und Bildungsauftrag tritt in den Hintergrund und jener der Betreuung in den Mittelpunkt. Dies zeigt sich nicht nur in der gesellschaftspolitischen Debatte um fehlende Betreuungsplätze und unzureichende Betreuungszeiten, sondern auch in den Versuchen, dem Fachkräftemangel mittels minderqualifizierter Kräfte entgegenzuwirken. Die Verschiebung des gesellschaftspolitischen Auftrages von Kindertagesstätten kollidiert mit dem Berufsethos der Pädagogischen Fachkräfte und trägt zu einem Ansehensverlust des Berufes bei. Denn: „Betreuung kann jeder“, Bildung und Erziehung bedürfen jedoch einer hohen fachlichen Kompetenz.

Kindertagesstätten sind familienunterstützende Erziehungs- und Bildungseinrichtungen, deren Augenmerk auf der Begleitung des Aufwachsens der Kinder und deren gezielter Förderung liegt. Außerfamiliäre Betreuung ist eine weitere Funktion, aber nicht der eigentliche Zweck von Kindertageseinrichtungen. Denn diese unterstützen die Eltern auf pädagogisch-professionelle Weise, ersetzen aber nicht den elterlichen Erziehungsauftrag.

Kindertageseinrichtungen sind zukunftsorientierte und zukunftsoffene Einrichtungen, deren Angebot sich auf die heranwachsende Generation und deren Zukunftschancen richtet. Werden sie für kurzfristige politische Zwecke, wie derzeit etwa solche des Arbeitsmarktes, missbraucht, können sie ihren eigentlichen Zweck nicht mehr erfüllen, wodurch die gesellschaftliche Ordnung mittel- und langfristig in Gefahr gerät. Arbeitsmarktpolitische und wirtschaftliche Probleme lassen sich nicht über eine Zweckentfremdung von Bildungseinrichtungen lösen, sondern bedürfen systemimmanenter Lösungen dort, wo sie entstehen.

Der Fachkräftemangel ist Symptom einer Entwicklung, bei der arbeitsmarktpolitische, wirtschaftliche und demographische Probleme pädagogischen Institutionen und den dort Tätigen aufgeladen werden. Dies kann keine Lösung sein. Auf diese Weise entstehen gesellschaftliche Folgelasten, die wiederum der nachwachsenden Generation aufgebürdet werden. Das Qualifikationsniveau und in der Folge die tarifliche Vergütung abzusenken, ist keine angemessene Antwort, sondern wird die benannten pädagogischen wie gesellschaftlichen Folgen noch verschärfen.

Vielmehr bedarf es einen gesellschaftlichen Diskurses, wie Arbeitsmarkt und Wirtschaftssystem so transformiert werden können, damit Eltern wie pädagogische Einrichtungen gleichermaßen den ihnen je eigenen pädagogischen Auftrag erfüllen können, zum Wohle der Kinder und Jugendlichen wie der Gesellschaft insgesamt. Kindertageseinrichtungen erfüllen eine wertvolle und unverzichtbare Bildungsaufgabe für die Gesellschaft von morgen.

VI. Dafür stehen evangelische Ausbildungsstätten …

Der Bundesverband evangelischer Ausbildungsstätten für Sozialpädagogik (BeA) sorgt sich um die gesellschaftliche Zukunft – so der Tenor eines neuen Positionspapieres, das in Kürze veröffentlicht werden soll. Bildung und Erziehung sind genuine Aufgaben von Kindertageseinrichtungen. Indem der Verband dafür einsteht, engagiert er sich für eine zentrale Zukunftsaufgabe, die gesellschaftliche Entwicklung sowie ein humanes, friedvolles und gemeinwohlorientiertes Zusammenleben zu sichern.

Mit einer qualitativen Ausbildung Pädagogischer Fachkräfte leisten die evangelischen Fachschulen, Fachakademien und Berufskollegs einen wichtigen Beitrag, den Bildungsauftrag von Kindertagesstätten zu sichern. Im Mittelpunkt steht dabei das kindliche Bildungsrecht und die Ansprüche der Heranwachsenden auf angemessene Förderung und Unterstützung. Ausdrücklich ist zu betonen, dass auch der ebenso deutliche Fachkräftemangel in der Grundschulbetreuung sowie den Hilfen zur Erziehung nicht übersehen werden darf. Mit Sorge nehmen der Verband wahr, wie der Bildungsauftrag im Elementarbereich zunehmend zurückgedrängt wird. Den evangelischen Ausbildungsstätten für Sozialpädagogik ist in dieser Situation wichtig:

  1. Evangelische Fachschulen für Sozialpädagogik leisten einen unverzichtbaren Beitrag für die Ausbildung professioneller Pädagogischer Fachkräfte. Sie haben in den vergangenen Jahren durch neue Ausbildungsformate, die Gewährleistung einer qualitativ hochwertigen, kompetenzorientierten Theorie-Praxis-Verzahnung sowie innovative Kooperationen mit Hochschulen und internationalen Partnern einen entscheidenden Beitrag zur Fachkraftsicherung in der Kindertagesbetreuung geleistet. Sie können aber nicht wirtschaftliche, politische oder gesellschaftliche Ursachen des Fachkraftmangels lösen, die außerpädagogischen Ursprungs sind.
  • Evangelische Fachschulen für Sozialpädagogik treten für eine hohe Professionalität Pädagogischer Fachkräfte ein. Sie wollen das Qualifikationsniveau des Berufes, die hohe Bildungs- und Erziehungskompetenz Pädagogischer Fachkräfte und damit die Attraktivität und das gesellschaftliche Ansehen des Berufsbildes auch künftig sichern. Tendenzen, das Berufsbild zu deprofessionalisieren, indem Betreuungsaufgaben zunehmend den Bildungs­auftrag überlagern, treten sie deutlich entgegen.
  • Pädagogische Institutionen haben einen erziehungsergänzenden, nicht ersetzenden Auftrag, der Eltern in ihren Erziehungsaufgaben unterstützt. Daher treten die Evangelischen Fachschulen dafür ein, in der Diskussion um die Behebung des Fachkräftemangels in Kindertagesstätten und anderen sozialpädagogischen Arbeitsfeldern, die Erfüllung des Bildungs- und Erziehungsauftrages als unumstößliche, zu bewahrende Kernkompetenz anzuerkennen und zu erhalten.
  • Folgerichtig ist die Kindertagesbetreuung aus Sicht der Evangelischen Fachschulen konsequent als bildungsbiographisch wichtige Institution den Bildungsministerien zuzuordnen.

VII. Was braucht es aus Perspektive der Ausbildungseinrichtungen, damit dies gelingt?

Aufstiegsmöglichkeiten und Spezialisierungen

Erziehungsberufe müssen als ein wichtiges Arbeitsfeld in der Berufsorientierung wahrgenommen und sichtbar gemacht werden. Attraktive Erziehungsberufe bedürfen gesellschaftlicher Anerkennung, eines professionellen Selbstverständnisses und verlässlicher Karrierechancen, etwa durch vertikale Aufstiegsmöglichkeiten, etwa stellvertretende Einrichtungsleitungen, und horizontale Spezialisierungswege.

Auch Fachschulen in freier Trägerschaft, wenn die Schulträger nicht verbeamten, können engagierten Lehrkräften nur begrenzt Aufstiegsmöglichkeiten bieten. Angesichts wichtiger werdender Anstrengungen in der Mitarbeiterbindung, bleibt in vielen Fällen nur der Weg über eine horizontale Spezialisierung und Differenzierung.

Quereinstieg

Angesichts des Fachkräftemangels bedarf es kontinuierlicher, rechtlich verankerter Qualifizierungen für Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger in Erziehungsberufe, die bis zur Ebene eines Bachelor professional führen. Ein „Wildwuchs“ ist dabei zu vermeiden. Denn die Vermehrung unterschiedlicher Ausbildungsgänge erhöht allerdings für Schulen die Planungsunsicherheit und birgt für Schulen in freier Trägerschaft ein nicht unbeträchtliches wirtschaftliches und Planungsrisiko, wenn nicht alle Klassen gefüllt werden können.  

Auszubildende mit Migrationshintergrund

Eine besondere Herausforderung bleibt die Einmündung von Auszubildenden mit Migrationshintergrund in das angestrebte Berufsfeld, auch wenn – nicht nur bei diesem Thema – deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern auszumachen sind. Aus Sicht der Ausbildungsstätten wäre es wünschenswert, wenn die Verfahren hierzu erleichtert würden und mehr Bereitschaft zu Klugheits- oder Billigkeitsentscheidungen im Einzelfall bestünde. Das heißt im Besonderen:

  • Die Feststellung der Eignung für eine Weiterqualifizierung als Erzieher oder Erzieherin sollte niederschwellig möglich sein, zum Beispiel durch Eignungsfeststellungen nach den ersten sechs Monaten der Ausbildung. Das könnte zur Entbürokratisierung bei der Anerkennung von Abschlüssen durch übergeordnete Behörden führen.
  • Bei Bewerbern und Bewerberinnen, die bereits im Heimatland eine pädagogische Ausbildung oder ein pädagogisches Studium abgeschlossen und möglicherweise auch schon in einem pädagogischen Beruf gearbeitet haben, sollte die Anerkennung zügiger erfolgen.
  • Bei Anerkennung von Teilen der im Heimat- oder Herkunftsland erworbenen pädagogischen Qualifikation, könnte die Weiterqualifizierung in Deutschland unter Umständen verkürzt werden.
  • Zentral für eine gelingende Ausbildung und Berufseinmündung ist die Beherrschung der deutschen Sprache. Ausbildungsstätten könnten hier verstärkt Unterstützung anbieten, wenn die hierfür notwendigen Ressourcen gesichert wären. Die Pflegeberufe sind hier bereits weiter. Die Fachschule des Vortragenden konnte dank Drittmittelfinanzierung vonseiten von vier Stiftungen ein zusätzliches Wahlpflichtfach „Deutsch für Pädagogische Fachkräfte“ anbieten, das in diesem Fall durch die Pädagogische Hochschule Ludwigsburg wissenschaftlich begleitet wurde. Leider war eine Überführung in den Regelbetrieb nicht möglich gewesen.
  • Ist eine Anerkennung von mitgebrachten Qualifikationen für das angestrebte Berufsfeld nicht möglich, bedarf es innovativer Modelle. Die hierfür notwendigen Voraussetzungen können von den Ausbildungsstätten und Trägern allein nicht gestimmt werden, insbesondere die Qualifizierung in kleineren Lerngruppen mit individueller Lernbegleitung, zusätzlich finanziertem Coaching oder begleitender Sprachförderung.
  • Denkbar wären auch der Ausbildung vorgelagerte Module mit fachsprachlichem Schwerpunkt. Erfahrungsgemäß reicht es nicht aus, wenn allein ein bestimmtes Sprachniveau, gegenwärtig B2, vorgegeben wird
  • Denkbar wären auch durch die Fachschulen begleitete Praxisphasen vor Beginn der Ausbildung – insbesondere, da Träger teilweise Auszubildende aus dem Ausland nur dann einstellen, wenn diese bereits ein Jahr im Rahmen eines Freiwilligen Sozialen Jahres oder eines Praktikums im deutschen Kindertagesbetreuungssystem tätig gewesen sind. Wichtig hierfür bleibt, dass die Fachschulen in freier Trägerschaft angesichts eines gleichfalls bestehenden Lehrkräftemangels durch angemessen ausgestaltete Vorgaben der staatlichen Schulaufsicht auch in der Lage sind, ihren eigenen Personalbedarf zu decken.
  • Schließlich wären auch gegenseitige unterstützende Netzwerke zu nennen: Auszubildende mit Migrationshintergrund unterstützen Auszubildende in ähnlicher Situation mit dem Ziel der emotionalen Stärkung und Stützung, aber auch der Unterstützung und Beratung bei bürokratischen Herausforderungen, zum Beispiel im Rahmen der Anerkennungsverfahren oder beim Erlernen der notwendigen Fachsprache.

Privatschulfinanzierung

Der Ausbau der Ausbildungskapazitäten und der Aufbau neuer Ausbildungsgänge ging gleichzeitig einher mit einer Neugründung von Fachschulen und einem wachsenden Konkurrenzdruck auf dem Schülermarkt. Damit die Ausbildungskapazitäten nicht gefährdet werden, bedarf es für die Ausbildungsstätten einer verlässlichen Planungssicherheit und einer auskömmlichen Privatschulfinanzierung. Bei Finanzierung der Schulen in freier Trägerschaft lassen sich sehr deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern ausmachen.

Gleiches gilt für das Engagement und den Rückhalt vonseiten der verschiedenen Landeskirchen und Träger im Bereich des evangelischen Fachschulwesens.

Das AZAV-Qualitätsmanagement für Kooperationen mit den Jobcentern und Agenturen für Arbeit wird den fachschulischen Rahmenbedingungen nicht gerecht, bedeutet einen enormen Personal- und Ressourceneinsatz und bildet die tariflichen Bedingungen innerhalb von Kirche und Diakonie nicht ab – bei geringem Ertrag. Denn unter dem Strich kommen nur wenige Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den Schulen in evangelischer Trägerschaft an, da öffentliche Schulen in gleicher Trägerschaft wie die Jobcenter vorrangig bedient werden. 

Das Potential der Fachschulen nutzen

Wenn Manfred Müller-Neuendorf vor einigen Jahren gefragt hat: „Ist die Ausbildung der Erzieher und Erzieherinnen an Fachschulen noch zukunftsfähig?“, so ist diese Frage zu bejahen. Mittlerweile besteht ein differenziertes Geflecht unterschiedlicher Qualifizierungswege, das unterschiedlichen Bedürfnissen, Lebenssituationen, berufsbiographischen Erwartungen (etwa für Berufseinsteiger oder Berufswechsler) oder Lernwegen gerecht wird. Auszubildende mit unterschiedlichen Zugangsvoraussetzungen und Vorerfahrungen finden einen Zugang in das professionelle, sozialpädagogische Arbeiten mit Kindern und Jugendlichen. Was Müller-Neuendorf noch als Vision formulierte, ist heute für Fachschulen Realität: Durch neue Formen der Durchlässigkeit und Vernetzung haben die Fachschulen für Sozialpädagogik ihren Platz in einer differenzierten Ausbildungs- und Studienlandschaft behauptet.

Das fachliche Potential, die großen Erfahrungen und die Expertise einer ausdifferenzierten Fachschullandschaft sollten nicht verspielt, sondern gezielt genutzt werden. Fachschulen in freier und evangelischer Trägerschaft können Innovatoren für ergänzende Ausbildungsmodelle auf fachlich hohem Niveau und auf Basis einer besonderen Expertise im Umgang mit Vielfalt und in der Unterstützung von Menschen sein.

Eine erweiterte Schriftfassung für eine Sammelbandveröffentlichung ist in Planung.

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