Rezension: Comment-iert!

Axel Bernd Kunze (Rez.): Mit Band und Mütze, Stil und Profil – Ein akademisches Lesevergnügen rund um den coleurstudentischen Comment, in: Deutsche Sängerschaft. Verbandsorgan der Deutschen Sängerschaft (Weimarer CC) 129 (2024), H. II, S. 17 – 19.

Rezension zu: Bernhard Grün: Comment-iert! 111 Korporationsstudentische Miniaturen (Die Fuxenstunde & Der Comment), Bad Buchau: Federsee 2024, 242 Seiten.

Erklärung: Forschungsminister der G20-Staaten stärken nationale Wissenschaftssprachen

Die Forschungsminister der G20-Staaten, die am 18. und 19. September in Manaus/Brasilien zusammengekommen sind, haben überraschenderweise eine Abschlusserklärung verabschiedet, die zwei wichtige wissenschaftssprachpolitische Empfehlungen enthält: a) die Empfehlung „Ermutigung zur Verwendung von Muttersprachen in der Wissenschaft und Gewährleistung des Zugangs für Menschen mit Behinderungen“; b) die Empfehlung „Erleichterung der Verbreitung von Wissenschaft in allen Sprachen.“ Die Erklärung wurde gemeinsam von Argentinien, Australien, Brasilien, China, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Indien, Indonesien, Italien, Japan, Kanada, Mexiko, Russland, Saudi-Arabien, Südafrika, Südkorea, Türkei und den USA sowie der Afrikanischen und der Europäischen Union unterzeichnet. Deutschland war durch Frau Ministerin Stark-Watzinger vertreten. Die Erklärung finden Sie hier: https://www.g20.org/en/tracks/sherpa-track/research-and-innovation

Rezension: Lob der Kalkleiste

Der Arbeitskreis der Studentenhistoriker bespricht auf seinen Internetseiten das neue Bändchen des bekannten Publizisten Winfried Henze, der im Sommer seinen fünfundneunzigsten Geburtstag und sein siebzigjähriges Priesterjubiläum feiern konnte:

Henze, Winfried, Lob der „Kalkleiste“ und allerlei zum Schmunzeln über ihre Träger. Dazu einiges, was einem beim Nachdenken über längst vergangene Zeiten so alles einfallen kann, mit Illustrationen von Claudia Gabriele Meinicke, Hildesheim 2024, 80 Seiten, ISBN 978-3-947066-95-7; 8,95 Euro.

Buchvorstellung: Menschenwürde im Intensivstaat?

Impulsvortrag aus einer Onlinebuchvorstellung am 23. September 2024:

Oleg Dik, Jan Dochhorn, Axel Bernd Kunze: Menschenwürde im Intensivstaat? Theologische Reflexionen zur Coronakrise (Philosophie interdisziplinär; 54), Regensburg: S. Roderer 2023, 258 Seiten.

„Die Gesellschaft ist in vielen Punkten tief gespalten. Die Kirchen könnten ihre Erfahrungen für die großen Werte von Vergebung und Versöhnung einbringen und helfen, ein neues Miteinander zu gestalten.“ – so der Theologe Thomas Arnold Anfang September in der Wochenzeitung „Christ in der Gegenwart“. Ist das wirklich so? Sicher, das Land ist gespalten. Ein Grund liegt in der Coronapolitik, die wir erlebt haben. Doch von den Kirchen ist bis heute wenig Versöhnendes zu erwarten. Die Kirchen, die Theologie im Allgemeinen und meine Disziplin, die Sozialethik, im Besonderen haben geschwiegen oder mitgemacht. Sollten nicht gerade Theologen mehr zu sagen haben angesichts einer Politik, die unser Menschenbild und Staatsverständnis, unser Freiheitsbewusstsein und Moralverständnis, unser Leibverhältnis und unsere Personwürde deutlich herausfordert?

An dieser Stelle möchte ich zwei Beiträge vorstellen, die ich für den Band beigesteuert habe. Der eine macht den Auftakt und fragt danach, warum es uns so schwer gefallen ist, über die Wert- und Freiheitskonflikte der Coronazeit öffentlich angemessen zu sprechen. Der andere schließt den Band ab und wagt einen Ausblick, wie eine Neugründung unseres Verfassungsstaates gelingen könnte. Ich werde dabei in weiten Teilen Auszüge aus den beiden Beiträgen des Bandes vorstellen.

1. Gesprächsstörungen. Eine sozial- und bildungsethische Ursachensuche im Angesicht der Coronakrise

Zum Anliegen des Beitrags: „Viel öffentliches Vertrauen ist durch eine Coronapolitik, die nach Ansicht des ehemaligen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, „ziemlich irrational, widersprüchlich, kopflos und im Übermaß reagiert hat“, zerstört worden. Krisen legen Fehlentwicklungen schmerzlich offen. […] Dabei geht es im Folgenden nicht um eine inhaltliche Abwägung ethischer Dilemmata der Coronapolitik. Vielmehr geht es um eine Ursachensuche, warum der Umgang damit im öffentlichen Diskurs so schwerfällt.“

Vorausgesetzt wird dabei: 1. Die Freiheit des Einzelnen findet ihre Grenze an der Freiheit des anderen. Eingriffe in zentrale Grundfreiheiten sind nur um der Freiheit willen zulässig, wenn dadurch das Gesamt an Grundfreiheiten gestärkt wird – so das Selbstverständnis des freiheitlichen Rechtsstaates. […] Die legitimen Begrenzungen äußerer Freiheit effektiv durchzusetzen, ist eine politisch-rechtliche Aufgabe. Diese zu rechtfertigen, bleibt eine moralische Herausforderung. Auch dann, wenn bestehende Rechtsgrundsätze zur Rechtfertigung angezielter Freiheitsbeschränkungen angeführt werden, können diese universale Geltung auf Dauer nur unter der Bedingung beanspruchen, dass sich ein moralischer Grund für die herangezogenen rechtlichen Gründe anführen lässt.“

2. „Eine aufgezwungene Moral verkehrt sich ins Gegenteil: Sie stärkt nicht das gesellschaftliche Ethos und führt nicht zu sozialen Tugenden, sondern zu Anpassung und Camouflage. […] Die Impfpflichtdebatte bietet reiches Anschauungsmaterial, was passiert, wenn die Politik eine bestimmte Gewissensentscheidung zu erzwingen versucht. Wissenschaftliche Argumente, die dabei angeführt werden, widerlegen sich selbst, wenn ihre Geltung durch Zwang oder Nötigung durchgesetzt werden muss.“

„Da bemühen wir uns in Deutschland seit Jahrzehnten um saubere Gesetzestechnik, filigrane Grundrechtsdogmatik bzw. korrekte und grundrechtsschonende Rechtsanwendung – und beim ersten bösen Pandemiefall rutschte das alles direkt und komplett weg.“ – so war es 2021 in der Zeitschrift „Recht und Politik“ zu lesen. Der Beitrag benennt im Weiteren sieben Gesprächsstörungen, die sich im öffentlichen Coronadiskurs zeigten und einen autoritären biopolitischen Neokollektivismus beförderten:

  1. ein mangelndes Gespür für gravierende Wertkonflikte,
  2. eine mangelnde Unvoreingenommenheit, die sich bemüht gegensätzliche Positionen vor dem Selbstverständnis des anderen wahrzunehmen,
  3. eine mangelnde Streitkultur,
  4. mangelnde Pluralitätsfähigkeit und Ambiguitätstoleranz,
  5. ein mangelndes Methodenbewusstsein,
  6. eine mangelhafte Unterscheidung zwischen wissenschaftlicher Expertise und politischer Entscheidung und
  7. ein mangelndes Wertgefühl für die Bedeutung von Vertrauen und Identität.

Wissensbasierte Asymmetrien werden heute schnell in moralische umgeleitet: „Ein bestimmter Sprachkode, die Bindung an eine bestimmte Agenda oder die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppierung schieben sich in den Vordergrund. […] [Ethische Vorrangregeln] erfüllen […] eine kommunikative Funktion, indem mit ihrer Hilfe die Entscheidung für eine bestimmte Handlungsoption nachvollziehbar begründet und argumentativ vermittelt werden kann.“ Affektgeleitete Entscheidungen verweigern sich der vergleichenden Abwägung und rationalen Begründung: „Der Abweichler wird moralisch unter Druck gesetzt, nicht aber als moralisch produktives, zur Selbstbestimmung fähiges, eigenverantwortliches Subjekt ernstgenommen. Mit Solidarität hat dies wenig zu tun, auch wenn die Coronapolitik einen solchen Eindruck erwecken wollte.“

Selten sind Freiheitseingriffe so nah und existentiell erlebt worden wie bei der Kontroverse um die Impfpflicht. Staatsverständnis und Menschenbild stehen damit gleichermaßen auf dem Prüfstand. Unsere Leiblichkeit wurde zu einer vom Staat und von unserer sozialen Umgebung zu vermessenden Größe gemacht. Das Gefühl, nicht mehr frei über den inneren Kernbereich der eigenen Persönlichkeit bestimmen zu können, wirkt verletzend – für viele bis heute.

Mit welchen Folgen? „Wenn Bürger nicht mehr glauben, Teil desselben Gemeinwesens zu sein und in ihren Rechten geachtet zu werden, kann das Zusammenleben auf Dauer nicht gelingen – oder nur um den Preis, vermehrter staatlicher Kontrolle, Regulierung und Steuerung. […] Die integrative Kraft einer gemeinsamen Identität zeigt sich mitunter erst dann, wenn andere Mechanismen versagen. […] Unsere ethischen Grundorientierungen werden in einer Ausnahmesituation einem Stresstest ausgesetzt. Doch auch in einer Ausnahmesituation bleibt die kritische Reflexion über Moral auf eingeführte ethische Kriterien angewiesen. Zentrale Grundprinzipien ethischer Abwägung und Entscheidungsfindung sind etwa die Kriterien der sachlichen Angemessenheit, Widerspruchsfreiheit oder Verhältnismäßigkeit. Versuche hingegen, aus der Lage heraus aktuelle ‚Sonderethiken‘ zu schaffen, verschärfen eine Krise und können schnell auf Abwege führen. Denn wo sich der Rechtsstaat ohne Not vorschnell in einen Notrechtsstaat wandelt, wird eine Politik effektiver und rationaler Krisenvorsorge und Gefahrenabwehr gerade nicht gestärkt – im Gegenteil. […] Wo sich aber Krisenmaßnahmen nicht mehr auf Einsicht in ihren Sinn und ihre Notwendigkeit stützen können, muss der Staat zunehmend Druck aufbauen, ein Klima der Angst erzeugen und Gefolgschaft erzwingen. Sollen hingegen grundlegende Sicherungen des Rechts und der Humanität nicht preisgegeben werden, müssen neue Herausforderungen und Krisen im Rahmen bewährter rechtsstaatlicher, verfassungspolitischer und ethischer Traditionen bewältigt werden. Das wäre auch in der Coronakrise möglich gewesen, wenn man es ernsthaft gewollt hätte.“

Doch die Politik hat in weiten Teilen einen anderen Weg eingeschlagen. Dies hat tiefergehende Gründe, die nicht allein sozialstaatlicher Natur sind, sondern Fragen des Kulturstaates berühren. Den „Kultur und Humanität sind keine sicheren Besitzstände. Sie zu erhalten, verlangt immer wieder neue, ernsthafte Bildungsanstrengungen.“

Eine bildungsethische Diagnose: „Die moralische Krise, die sich angesichts der Herausforderungen durch COVID-19 zeigte, erweist sich in Teilen als Bildungskrise. […] Wo das Leistungsprinzip verkommt und Bildung allzu häufig auf ihre äußere soziale Seite und damit auf eine soziologisch beschreibbare Anpassungsleistung reduziert wird, verliert das öffentliche Gespräch an Tiefe und Niveau: […] Auf der einen Seite werden Bedingungen wissenschaftlicher Erkenntnisbildung unrealistisch eingeschätzt, so als könnten etwa verlässliche Impfstoffe möglichst rasch entwickelt und auf den Markt gebracht werden.  Auf der anderen Seite wird das öffentliche Gespräch moralisierend aufgeladen. Denn wo ein differenziertes, streitbares Gespräch nicht mehr möglich ist, greifen Strategien der Vereinfachung, Banalisierung, Pauschalisierung, Etikettierung, Emotionalisierung oder moralisierender Aggressivität um sich. Verstärkt werden diese Tendenzen durch die Abneigung, kulturelle Erwartungen und Ansprüche verbindlich einzufordern. Wo aber Geltungsansprüche nicht mehr zugelassen werden, ersetzt am Ende Aktion die Reflexion. Die rationale Abwägung wird durch Aktivismus abgelöst. Ein solcher schlägt schnell in Gewalt um, da gehandelt, aber das Handeln nicht mehr als begründet ausgewiesen wird. Auf Dauer erstirbt die Achtung vor dem freien Subjekt. Auch Verstöße gegen das aus dem Beutelsbacher Konsens bekannte Überwältigungsverbot und Kontroversitätsgebot im öffentlichen Moraldiskurs sind Formen kommunikativer Gewalt.

Biopolitische Sicherheit bleibt ein fragiles Gut, gerade in einer globalisierten Welt. Wir täten gut daran, die geistig-moralischen Ressourcen für einen rationalen Umgang mit Bedrohungen zu pflegen, damit wir für mögliche künftige Krisen besser gerüstet sind.

2. Intensivstaat und zivilgesellschaftliche Staatsbedürftigkeit. Sozial- und freiheitsethische Betrachtungen zum Staatsverständnis (nicht nur) in Coronazeiten

Die Corona-Pandemie hat gezeigt, dass Menschen unter der Signifikanz eines Naturereignisses sehr wohl und sehr rasch eine neue kollektive Praxis hervorbringen können, gewiss auf Drängen und mit Hilfe staatlicher Intervention.“ – so Udo Di Fabio Ende 2020 in der FAZ.  Noch 2019 hatte der ehemalige Bundesverfassungsrichter erklärt, politische Herrschaft könne heute nicht mehr in erster Linie vom Staat her gedacht werden, „weil die Institution des Staates ihre kategoriale Dominanz und die von ihr ausgehende explanative Kraft eingebüßt hat.“ In der Coronazeit drohte ein Zerrbild durch ein anderes ersetzt zu werden: Der Maßnahmenstaat war geboren. Nicht mehr eine zuvor vielfach zu beobachtende sozialwissenschaftliche und sozialethische Staatsvergessenheit gab den Ton an. Im Gegenteil: Die Zivilgesellschaft entdeckte ihre Staatsbedürftigkeit. Ja, mehr noch: Auf einmal war der Staat wieder da, in der Coronakrise waren Grenzschließungen möglich, wurden pauschale Eingriffe des Staates in Grund- und Menschenrechte von einer Mehrheit widerspruchslos akzeptiert. Stephan Bröcher sprach im „Tagesspiegel“ von einem „Intensivstaat“. Der zweite Beitrag folgt einem dreischrittigen Gedankengang:

1. Verwerfungen: Welche Verwerfungen auf dem Weg zum autoritären „Intensivstaat“ drohen, wird anhand der sozialethischen Debatte um eine moralische Impfpflicht diskutiert. „Mit dem Bestreben, die Frage nach einer Impfpflicht von der rechtlichen auf die moralische Ebene zu verlagern, sollte innerhalb der sozialethischen Debatte nicht selten der Eindruck erweckt werden, eine moralische Impfpflicht sei schonender, verbunden mit der Hoffnung, die Debatte so zu befrieden und eine weitergehende Polarisierung zu vermeiden. Dies ist keineswegs der Fall. So kann sich der Einzelne einer Rechtspflicht, der er sich äußerlich, wenn auch vielleicht widerstrebend und ungern, unterwirft, innerlich entziehen. Bei einer moralischen Pflicht gelingt das nicht. Einer inneren Distanzierung ist die notwendige Freiheit hierzu entzogen, weil durch Rekurs auf das Gewissen dem Einzelnen die Freiheit zur individuellen Abwägung gerade genommen und das Gewissensurteil zu einer bereits außerhalb getroffenen, sozialethisch-politischen Entscheidung verkehrt wird. Das Gewissen, das sich für die freie Impfentscheidung ausspricht, wird in letzter Konsequenz zum irrenden Gewissen erklärt.“ […] „Das Beste verdirbt, wenn die freie Wahl zum Guten institutionalisiert und kollektiviert wird. Es besteht dann immer die Gefahr, die moralische Forderung dem anderen zu seinem eigenen vermeintlich Besten an den Kopf zu werfen. Es geht dann nicht mehr um die Unterscheidung zwischen gut und böse, sondern die bloße Einhaltung einer sozialen Norm wird zum Wert an sich. Wo die freiwillig und verantwortlich getroffene Antwort des Einzelnen auf eine ethische Herausforderung durch verallgemeinerte Regeln ersetzt wird, droht die Gefahr, dass diese zur Ideologie werden. Gemeint ist ein Diskursgebrauch, der politisch mobilisieren will, und dabei instrumentalisiert, zuspitzt, vereinfacht.  Eine pervertierte Logik der moralischen Entscheidung kann die Folge sein, wie sich in der Impffrage gezeigt hat. Statt eine moralische Pflicht über den Weg einer sorgfältigen Güter- und Übelabwägung zu prüfen, wird die Konklusion bereits am Anfang festgesetzt: Eine moralische Impfpflicht sollte bestehen, da eine rechtliche abgelehnt oder nicht für durchsetzbar gehalten wird. Entsprechend müssen die Prämissen nur noch passend vorangestellt werden, um zum gewünschten Ergebnis zu kommen: Zum einen bestehe eine Pflicht, den anderen zu schützen. Zum anderen garantiere die neue, vermeintlich weitgehend nebenwirkungsfreie Impfung einen sehr guten Schutz.“

2. Reflexionen: „Das Pflege- und Gesundheitssystem vor Überlastung zu schützen, ist eine politische Aufgabe. […] Statt in die Grundrechte der Bürger einzugreifen und einen autoritären Zwangsstaat herbeizureden, sollten politisch Verantwortliche wie Öffentlichkeit fragen, wie künftig eine rationale Krisenvorsorge-, Katastrophen- und Zivilschutzpolitik aussehen kann. Dabei wäre beispielsweise auch eine pandemiebegründete, notfallmäßige und zeitlich begrenzte Zwangsbewirtschaftung von Intensivbetten durchaus nicht auszuschließen (was allerdings voraussetzt, dass Politik und Verwaltung grundsätzlich zu einem zielgenauen und effektiven Krisenmanagement in der Lage sind, woran ein dysfunktionales Staatshandeln durchaus Zweifel nährt).“

Dem freiheitlichen Rechts- und Verfassungsstaat fällt im Rahmen des von ihm zu leistenden Rechtsgüterschutzes nur eine begrenzte Gewährleistung mittelbarer Moralität zu. Der Staat muss um die Grenzen seiner eigenen Wirksamkeit wissen. Denn wo der säkulare Staat immer größere Bereiche der Gesellschaft seiner Steuerung unterwerfen und die vom Recht geschützte Wertordnung zunehmend auf zivilreligiöse Weise zum Zweck seiner Selbststabilisierung einsetzen wollte, müsste er nicht allein Rechtsloyalität einfordern, sondern zunehmend die Gesinnung seiner Bürger kontrollieren. Aktuell bleibt die Warnung des verstorbenen Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Fundamentalismus kann auch in der Form von Wertordnungsfundamentalismus auftreten.“

Und die Rolle der Sozialethik? „Sich am demokratischen Diskurs mit belastbarer ethischer Expertise ernsthaft zu beteiligen, wäre für die theologische Sozialethik und kirchliche Sozialverkündigung eine wichtige Aufgabe politisch-gesellschaftlicher Diakonie, gerade in Krisenzeiten. In einem Debattenklima, in dem entscheidende Grundfreiheiten der Verfassungsordnung auf dem Spiel stehen und immer drastischere Maßnahmen diskutiert werden, hätte Sozialethik zudem die Aufgabe, den politischen Akteuren einen Notausgang zu öffnen, sodass ein Rückzug aus der Sackgasse zunehmender Polarisierung und Gesprächsvergiftung gesichtswahrend möglich wird. Davon war allerdings nichts zu erkennen.“

Zwei Seiten einer Medaille gehören zusammen – einerseits der Staat: „Das Recht kann überfordert werden, wenn es mit Superlativtatbeständen aufgeladen wird. Ein Rechtsstaat, der Gesundheitsschutz zur obersten oder sogar absoluten Priorität erklärt, muss zwangsläufig scheitern, auf Kosten der Freiheit. Wo unterschiedliche Zieldimensionen menschlichen Lebens nicht mehr der Abwägung für wert gehalten werden, sondern ein Ziel absolut gesetzt wird, verfehlt der freiheitliche Rechts- und Verfassungsstaat ein wesentliches Element seiner selbst: den Anspruch, einen Ausgleich zu schaffen zwischen unterschiedlichen, mitunter auch konträren Interessen oder sozialethischen Orientierungswerten, welche das Leben seiner Bürger bestimmen.“ – Andererseits: Die Gesellschaft dankt ab. „Der übergriffige Staat legitimiert sich nicht unwesentlich durch die Autoritätshörigkeit seiner Bürger, die nicht selten durch umfassende Transfers und Subventionen erkauft ist. Der Preis hierfür ist in Form wachsender Staatsverschuldung und einer Entmündigung der Gesellschaft zu entrichten. Umgekehrt fördert bürgerlicher Irrglaube, der Staat sei übermächtig, ein wachsendes Maß an staatlicher Steuerung und staatlichen Eingriffen.“

Von einer Aufarbeitung, gar Aussöhnung ist gegenwärtig wenig bis nichts erkennbar. Erschwerend kommt  hinzu, dass in der Coronakrise nahezu alle politischen, gesellschaftlichen und auch kirchlichen Akteure Partei geworden sind – und damit komme ich zum Schluss:

3. Perspektiven: „Ein künftiger Aussöhnungsprozess wird keinesfalls als Dialog auf Funktionärsebene gelingen, sondern betrifft die Allgemeinheit bür­gerlich-demokratischer Öffentlichkeit. Es braucht eine Selbst­­er­mächtigung der bürgerlichen Gesellschaft, aus deren Mitte heraus sich glaubwürdige Akteure finden müssen, die einen solchen Prozess anstoßen, moderieren und begleiten. Vielleicht ist es gar nicht so abwegig, an die Runden Tische der Wendezeit vor etwas mehr als dreißig Jahren zu erinnern. Eine Politik, die bewusst auf Polarisierung und Ausgrenzung, Druck und Zwang gesetzt hat, wird nicht politisch überwunden werden können, sondern nur durch ein gesellschaftliches Ethos, das gewillt ist, die damit verbundenen Erfahrungen unvoreingenommen zu befragen, gemeinsam zu werten und daraus Schlüsse für eine veränderte politisch-soziale Praxis abzuleiten.“

Erhellend für dieses Kapitel waren nicht zuletzt Überlegungen Axel Montenbruck, der sich in einem Band mit Versöhnung und Humanität aus juristischen Perspektiven auseinandergesetzt hat.

Antworten werden im freiheitlich-widerständigen Potential echter Bürgerlichkeit zu suchen sein, wie es etwa Norbert Bolz im Anschluss an den Philosophen Odo Marquard stark macht. Es braucht einen neuen Mut zur Bürgerlichkeit, der sich einer politischen Vereinnahmung des Einzelnen und seiner sozialen Praxis selbstbewusst entgegenstellt und bereit ist, sich Freiräume wiederzuholen. […] Gerade in Deutschland wird der notwendige Aussöhnungsprozess nicht leicht fallen, da hierzulande wenig Erfahrung mit zivilreligiösen oder identitätsstiftenden Ritualen besteht, auf der aufgebaut werden könnte. […] Hoffentlich werden sich am Ende dieser moralischen Krise noch genügend Einzelne mit bürgerlichem Selbstverständnis finden, die eine ethische Neugründung unserer Wert- und Verfassungsordnung anzustoßen bereit sind. Kleiner geht es jedoch nicht. Denn es braucht eine selbstbewusste, mutige, am Freiheitsideal orientierte bürgerliche Öffentlichkeit, die sich schützend vor die Verfassung stellt, sich kollektivistischen Zumutungen entgegenstemmt und in der streitbar um das bessere Argument gerungen wird, jenseits politischer Nötigung und jenseits der Vereinnahmung des Einzelnen durch übermächtige gesellschaftliche Kollektive – dies alles aus dem Bewusstsein heraus, dass der Gemeinschaft so am besten gedient ist.“

„Gewissensfragen werden nur dort erkannt, wo auch ein klares Bewusstsein und differenziertes Verständnis für individuelle Freiheit lebendig ist. Beides gilt es zu verteidigen gegen einen sozialen Freiheitsbegriff, wie er immer häufiger eingefordert wird. […] Wenn wir Freiheit sozial konstruieren, entscheiden am Ende Kollektive, seien es Parteien, Gremien, Impfkommissionen oder andere Agenturen, darüber, welchen Gebrauch wir überhaupt noch von unserer Freiheit machen dürfen. Doch nicht die Inanspruchnahme von Freiheit ist rechtfertigungsbedürftig, sondern deren Einschränkung um des Gesamtsystems der Freiheit willen. […] Ein sozialer Freiheitsbegriff macht Freiheit zu einer Funktion der Gerechtigkeit und versteht unter Freiheit am Ende nur noch sozialstaatliches Anspruchsdenken, erstickt aber jene bürgerliche Produktivität und Kreativität, die unsere Gesellschaften einmal groß gemacht haben.“

„Konformismus arrangiert sich. Wo sich Konformismus ausbreitet, haben Reue und Scham, Gewissen und Eigensinn, Treue und Eigenverantwortung, Augenmaß und Skepsis einen schweren Stand. Diese Tugenden wiederzuerwecken, wäre ein erster Schritt, den notwendigen Prozess der Aufarbeitung und Aussöhnung einzuleiten.“

(soweit nicht anders angegeben, sind die Zitate aus dem vorgestellten Band entnommen)

Interview: Ethische Fallbesprechungen – für Lehrkräfte?

Nicola Heckner, Leiterin des VBE-Referats Schule und Religion im Landesverband Baden-Württemberg, interviewt in der aktuellen Ausgabe den Bildungsethiker Axel Bernd Kunze:

Ethische Fallbesprechungen – ein Instrument für Lehrkräfte?,

in: VBE-Magazin. Zeitschrift des Verbandes Bildung und Erziehung – Landesverband Baden-Württemberg, Ausgabe 9/2024, S. 24. f.

Dokumentation: Segnung des Alemannenhauses in Bamberg

„bambOST“, der Pfarrbrief des katholischen Seelsorgebereiches Bamberg-Ost, berichtet in seiner Herbstausgabe vom September 2024 (S. 44) über die Segnung des im Pfarrgebiet liegenden Hauses der Leipziger Burschenschaft Alemannia zu Bamberg durch Pfarrvikar Müllner. Die Segnung fand anlässlich der Hausrenovierung zum Stiftungsfest 2024 statt.

Vortrag: Erziehen als Beruf – zwischen Betreuung und Bildung

Vortrag auf der Fachtagung „Die Zukunft evangelischer Kitas gestalten. Einsichten und Impulse im Dialog mit dem aktuellen Bildungsbericht ‚Evangelische Tageseinrichtungen für Kinder'“ des Comenius-Instituts Münster (13. September 2024, Tagungshotel Dunant, Münster/Westf.):

Der gravierende Fachkräftemangel in der Kindertagesbetreuung ist Symptom eines gesellschaftlichen Wandels in den vergangenen drei Jahrzehnten, der politisch nicht vom Himmel gefallen ist. Der folgende Impuls will vor allem auf die berufs- und professionalisierungspolitischen Folgen eingehen, die damit einhergehen.

I. Ein Blick zurück …

Mit der Wiedervereinigung übernahmen im Zuge der Rechtsangleichung die beigetretenen Bundesländer den bundesdeutschen Paragraphen 218 StGB; damit endete die bis dahin in der DDR für Abtreibung geltende Straffreiheit. Nach kontroversen öffentlichen Debatten verständigte man sich 1995 auf einen Kompromiss, wonach Abtreibung zwar strafbar bleibt, aber unter bestimmten Bedingungen nicht verfolgt wird. Gleichzeitig sollte die Vereinbarkeit  von Familie und Beruf erleichtert werden; und Frauen sollten darin bestärkt werden, ein ungeborenes Kind auch auszutragen. So wurde die Kindertagesbetreuung ausgebaut und 1996 ein Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz für Kinder ab drei Jahren eingeführt. Mittlerweile sind die Rechtsansprüche weiter ausgeweitet worden.

Eine verstärkte Nachfrage nach Kindertagesbetreuung setzte in den westlichen Bundesländern  allerdings erst mit dem sogenannten „PISA-Schock“ zu Beginn der 2000er Jahre ein. Im Zuge der damals beginnenden Bildungsreformdebatte wurde die empirische Bildungsforschung ausgebaut, zugleich entstanden aber auch ein eigenständiger sozialethischer Bildungsdiskurs und eine menschenrechtsethische Diskussion über Gehalt und Grenzen eines Rechts auf Bildung und dessen Umsetzung hierzulande.

Das Recht auf Bildung in seiner überkommenen positivierten Form umfasst zunächst einmal keinen Anspruch auf Elementarbildung. Gleichwohl ist in der jüngeren Bildungsreformdebatte immer wieder angemahnt worden, dass dieses Recht nur dann umfassend verwirklicht werden könne, wenn sein Gehalt auch auf die Bildungsbiographie vor der Einschulung ausgedehnt werde. Prominent wurde diese Forderung nicht zuletzt durch den Deutschlandbesuch des seinerzeitigen Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen für das Recht auf Bildung, Vernor Muñoz Villalobos, im Jahr 2006. In seinem Bericht, den er ein Jahr später dem Menschenrechtsrat in Genf vorlegte, forderte der UN-Vertreter eine vermehrte und zugleich kostenfreie Vorschulbildung für Deutschland.

II. Das Bildungsverständnis der Elementarbildung

Der Gemeinsame Rahmen der Länder für die frühe Bildung in Kindertageseinrichtungen, den die Kultusministerkonferenz 2004 verabschiedet hat, schreibt den Kindertageseinrichtungen einen eigenständigen Bildungsauftrag zu. Damit gehen vor allem zwei Erwartungen einher.

Ein Recht auf Bildung wird sich nur dann umfassend verwirklichen lassen, wenn auch der frühkindlichen Bildung und Förderung verstärkt Beachtung geschenkt wird, bevor sich Benachteiligungen und Förderbedarf verfestigt haben. Mit der Betonung eigenständiger Bildungsansprüche der Kinder sollen diese stärker als bisher als selbständige Subjekte anerkannt und deren rechtlich begründete Beteiligungsansprüche ausgeweitet werden.

Mit einer Stärkung des Bildungsbegriffs  verband sich überdies von Anfang an die Hoffnung auf eine frühpädagogische Professionalisierung. Mit dem Bildungsbegriff werden Tageseinrichtungen für Kinder stärker an die Institutionen des Bildungssystems gebunden.

Für die Akteure in diesem Feld stellen sich damit zwei Herausforderungen: Zum einen wird, soll der frühkindliche Bereich nicht „verschult“ werden, auf die Eigenständigkeit einer Elementarbildung zu achten sein, ebenso aber auch auf deren Anschlussfähigkeit an die Grundschulbildung. Zum anderen wird zu fragen sein, wie sozialpädagogische und Bildungsaufgaben fruchtbar miteinander verknüpft werden können, ohne dass Bildung ein sozialpolitisches Mittel zum Zweck wird oder die sozialpädagogische Arbeit nur noch als Lieferant für Lernanlässe gefragt wäre.

Der genannte Gemeinsame Rahmen der Länder für die frühe Bildung in Kindertageseinrichtungen, auf dem die Orientierungs-, Rahmen- oder Bildungspläne für den Elementarbereich in den einzelnen Ländern aufbauen, verzichtet bewusst auf eine Abgrenzung zwischen Bildung und Erziehung: „Der Bildungsprozess des Kindes umfasst alle Aspekte seiner Persönlichkeit. Bildung und Erziehung werden als ein einheitliches, zeitlich sich erstreckendes Geschehen im sozialen Kontext betrachtet.“Zwischen den Zeilen ist die Warnung vor einer „Verschulung“ des Kindergartens herauszulesen. Vermieden werden soll ein Bildungsverständnis, wie es schulischer Didaktik zugrunde liegt, bei der die Auseinandersetzung zwischen Lernenden und Lehrenden immer primär über einen methodisch strukturierten Bildungsinhalt verläuft.

In der Elementardidaktik soll sich der „Prozess der Weltaneignung“ – wie Bildung im Gemeinsamen Rahmen umschrieben wird – vorrangig aus sozialen Situationen ergeben, also alltagsbasiert erfolgen: „Eine Fächerorientierung oder Orientierung an Wissenschaftsdisziplinen ist dem Elementarbereich fremd. Eine Beschreibung von Themenfeldern, in denen sich kindliche Neugier artikuliert, aber ist sinnvoll, weil sie die Angebote der Kindertageseinrichtung konkretisiert.“Der kokonstruktivistische Mainstream der elementarpädagogischen Bildungspläne folgt einem umweltbezogenen Entwicklungsverständnis. Bildung und Erziehung geschehen über die lern- und entwicklungspsychologisch angemessene Gestaltung von Beziehungen, Situationen, Zeiten und Räumen.

Gerade in Zeiten eines bis auf Weiteres fortbestehenden Fachkräftemangels wird es darauf ankommen, den Bildungsanspruch von Kindertageseinrichtungen zu verteidigen. Soll ein qualitativ hochwertiges Angebot frühkindlicher Bildung, Erziehung und Betreuung gesichert bleiben, sind die pädagogischen Leistungen von Kindertageseinrichtungen aus einer bildungsbestimmten Perspektive zu bestimmen. Dabei werden sich Querbezüge zwischen Bildungs- und Sozialpolitik zeigen. Doch bleibt die Sicherung einer sozialstaatlich angemessenen und leistungsfähigen Betreuungslandschaft eine politische Aufgabe, die nicht mit dem Bildungs- und Erziehungsauftrag von Kindertageseinrichtungen verwechselt werden darf. Politische, gesellschaftliche oder wirtschaftliche Probleme werden grundsätzlich nicht über Bildung gelöst werden können. Deren Aufgabe bleibt die Ausbildung einer selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Persönlichkeit, und zwar über Stärkung der praktischen Urteilskraft.

Festzuhalten bleibt aber auch, dass nicht alles, was Kindertageseinrichtungen sozialpädagogisch leisten, an deren Bildungsauftrag angehängt werden kann, gerade dann nicht, wenn die Momente der Selbsttätigkeit und aktiven Verarbeitung im Bildungsprozess nicht unterbestimmt bleiben sollen. Kindertageseinrichtungen haben aus guten Gründen einen historisch gewachsenen, eigenständigen pädagogischen Auftrag, der sich deutlich vom Auftrag des Schulwesens abhebt.

Alltagsintegrierte Erziehung und Förderung setzen sozialpädagogische Kompetenzen voraus, die nicht vollständig durch ein bildungsbezogenes Selbstverständnis absorbiert werden sollten. Für die Pädagogik der Kindheit ergibt sich die Aufgabe, pädagogische Konzepte für die Verschränkung bildungsorientierter Zugänge einerseits und sozialpädagogischer Zugänge andererseits zu entwickeln. Wenn dies gelingt, könnten sich frühe Bildung, frühzeitige Förderung und sozialpädagogische Unterstützung, Kompetenzerwerb und pädagogisch anspruchsvolle Betreuung wechselseitig verbinden und gegenseitig befruchten.

Wenn dies pädagogisch gelingt, wird dabei auch der Prozess wachsender Grundschulbetreuung profitieren. Gerade hierfür ist es wichtig, überzeugende Modelle für die Kooperation schulpädagogischer und sozialpädagogischer Professionen auf Augenhöhe zu entwickeln. Ein geklärter Bildungsbegriff für den Elementarbereich wird die hierfür notwendigen Kommunikations- und Austauschprozesse deutlich unterstützen.

III. Zwischenfazit

Der politisch angestoßene Ausbau der Kindertagesbetreuung war verschieden motiviert: Elementarbildung wurde zunehmend als erster wichtiger Schritt einer erfolgreichen Bildungskarriere betrachtet. Der Ausbau galt zudem als wichtiger Faktor für eine Stärkung des Wirtschaftsstandorts. Verbesserungen bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf sollten dazu dienen, dem stärker spürbar werdenden demographischen Wandel und der drohenden Erosion der Sozialsysteme entgegenzuwirken.

Der Ausbau der Kindertagesbetreuung folgte somit in starkem Maße wirtschaftlichen und sozialpolitischen Interessen. Der pädagogische Eigenwert einer gestärkten, auf Mündigkeit zielenden Elementarbildung blieb vielfach sekundär. Auf Bundesebene und einem Teil der Bundesländer liegt die Verantwortung für den Elementarbereich weiterhin bei den Sozial- und nicht bei den Kultusministerien. Die Kindertagesbetreuung gilt in Deutschland weiterhin stark als Teil des Hilfesystems für Familien, und nicht zwingend als integraler Bestandteil des Bildungssystems.

Die politischen und gesellschaftlichen Erwartungshaltungen, die an den Bereich der Kindertagesbetreuung herangetragen werden, sind vielfach außerpädagogischer Natur und entsprechen nicht dem genuin pädagogischen Selbstverständnis der evangelischen Ausbildungsstätten für Sozialpädagogik. Diese Erwartungen bedürfen in jedem Fall der eigenständigen pädagogischen Kontextualisierung. Dabei ist zu bedenken, dass der Fachkräftemangel Symptom von Entwicklungen und Erwartungen ist, die nicht allein der frühkindlichen Bildung zugerechnet werden können und auch nicht pädagogisch gelöst werden können.

IV. Folgen

Die Akteure in der Elementarbildung sehen sich einer Ambiguität gesellschaftlicher Erwartungen gegenüber: Einerseits soll primär eine verlässliche Betreuung sichergestellt werden; andererseits wird ein Bildungsauftrag formuliert. Bei verlängerten Betreuungszeiten werden Kindertagesstätten zu wichtigen Instanzen der Erziehung und Wertvermittlung. Diese Aufgaben erfordern weitreichendes pädagogisches und entwicklungspsychologisches Fachwissen sowie zeitliche und personelle Ressourcen. Letztere sind angesichts des deutlichen Fachkräftemangels knapp. Die Folgen zeigen sich nicht allein in einem verminderten Angebot an Betreuungsmöglichkeiten, sondern beeinflussen nicht zuletzt das Selbst- und Berufsverständnis Pädagogischer Fachkräfte.

Familien- und wirtschaftspolitische Folgen

Der Erziehungsauftrag von Kindertageseinrichtungen wächst, da ein nicht unerheblicher Teil der Eltern zunehmend weniger in der Lage ist, kontinuierlich erzieherisch tätig zu sein. Hieraus ergeben sich weitreichende Aufgaben für die Kindertageseinrichtungen, beispielsweise bei der Wertvermittlung, Sprachbildung, beim Umgang mit Heterogenität oder beim sozialen Lernen.

Eine kürzere oder unzuverlässige Betreuungszeit hat nicht allein Folgen für die Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit und für die Teilhabe von Eltern am Arbeitsmarkt. Dies löst individuell Ängste vor gesellschaftlichem Abstieg und volkswirtschaftlich vor gesellschaftlichem Wohlstandsverlust aus. Genauso wichtig ist aber auch: Kindertagesstätten, die ihren Bildungsauftrag wegen fehlender oder mangelhaft ausgebildeter Fachkräfte nicht umsetzen können, können langfristig auch keinen Beitrag zur Gewinnung qualifizierter Fachkräfte leisten.

Pädagogische und entwicklungspsychologische Folgen

Damit sich Kinder angemessen entwickeln können, bedürfen sie stabiler Beziehungen und einer bildungsbegleitenden Unterstützung. Dass Kinder und Jugendliche in pädagogischen Moratorien aufwachsen und sich bilden können, ist eine Errungenschaft des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts. Die vorstehend benannte, durch Sparzwänge und Fachkräftemangel noch verstärkte Deprofessionalisierung gefährdet den Fortbestand der Gesellschaft, weil die nachwachsende Generation nicht die notwendige Unterstützung erhält, die sie braucht, um die für soziale Teilhabe und berufliche Unabhängigkeit notwendigen Kompetenzen auszubilden. Wenn wir die Aufgaben frühkindlicher Bildung vernachlässigen, wird uns dies über kurz oder lang gesellschaftlich und volkswirtschaftlich auf die Füße fallen.

Soziale und politische Folgen

Durch den Fachkräftemangel werden soziale Unterschiede verstärkt, da wohlhabendere Milieus Mängel in der öffentlichen Kindertagesbetreuung leichter ausgleichen können.  Kinder, die ein stabiles häusliches Umfeld genießen, mehr Zeit mit den Eltern verbringen und durch diese eine intensivere individuelle Förderung erhalten, werden wahrscheinlich einen höheren Bildungsgrad erreichen können als jene, die einer nicht hinlänglichen Förderung in ausgesetzt sind und deren Eltern weniger Zeit für ihre Erziehung und Begleitung haben.

Ob Kinder in der Schule gut lernen können, ist nicht allein eine Frage der Didaktik, sondern auch der erzieherischen Grundlagen. Im  Grundschulbereich, aber auch den weiterführenden Schulen ist schon heute sichtbar, dass die Zahl der Kinder mit sozial-emotionalen Verhaltensauffälligkeiten deutlich gestiegen ist. Dies zieht einen höheren Bedarf an Schulbegleitung, Schulassistenz, Schulsozialarbeit oder Teamteaching nach sich, damit der Unterrichtsbetrieb aufrechterhalten werden kann. Dies bindet finanzielle, aber auch personelle Ressourcen.

Erziehungs- und Bildungsdefizite in Kindheit und Jugend und damit einhergehende Folgen, z. B. für Emotionsregulation oder soziale Integrationsfähigkeit, können sich biographisch langfristig auswirken. Dies verringert dauerhaft die die sozialen Teilhabechancen, befördert gesellschaftliche Exklusion – mit weiterreichenden Folgen für politische Stabilität und gesellschaftlichen Frieden.

Berufs- und professionalisierungspolitische Folgen

Das Berufsethos Pädagogischer Fachkräfte basiert auf der Erziehung und Bildung der ihnen anvertrauten Kinder, deren Selbstbestimmungsfähigkeit und Mündigkeit gefördert werden sollen. Diese Arbeit ist äußerst anspruchsvoll und bedarf einer hohen Fachlichkeit. Sie bedarf der Zeit das einzelne Kind in seiner Entwicklung zu sehen und Bildungsprozesse anzuregen. Der steigende Bedarf an Kindertagesbetreuung aufgrund gesellschaftspolitischer Veränderungen und  des daraus resultierenden Fachkräftebedarfs führen dazu, dass Kindertageseinrichtungen die Erfüllung ihres Bildungs- und Erziehungsauftrag in hohem Maße erschwert wird. Dies hat zur Folge, dass immer mehr Fachkräfte überlastet und frustriert sind, da sie der primären Aufgabe, um derentwillen sie den Beruf gewählt haben, nicht mehr gerecht werden könne. Eine Abwanderung Pädagogischer Fachkräfte in andere Arbeitsfelder, eine hohe Fluktuation oder ein erhöhter Krankenstand sind sichtbare Folgen Es droht ein Ansehens- und Attraktivitätsverlust des Berufes.

V. Zukunftsoffenheit

Durch den Fachkräftemangel verändert sich in der öffentlichen Diskussion der Auftrag der Kindertagesstätten. Der Erziehungs- und Bildungsauftrag tritt in den Hintergrund und jener der Betreuung in den Mittelpunkt. Dies zeigt sich nicht nur in der gesellschaftspolitischen Debatte um fehlende Betreuungsplätze und unzureichende Betreuungszeiten, sondern auch in den Versuchen, dem Fachkräftemangel mittels minderqualifizierter Kräfte entgegenzuwirken. Die Verschiebung des gesellschaftspolitischen Auftrages von Kindertagesstätten kollidiert mit dem Berufsethos der Pädagogischen Fachkräfte und trägt zu einem Ansehensverlust des Berufes bei. Denn: „Betreuung kann jeder“, Bildung und Erziehung bedürfen jedoch einer hohen fachlichen Kompetenz.

Kindertagesstätten sind familienunterstützende Erziehungs- und Bildungseinrichtungen, deren Augenmerk auf der Begleitung des Aufwachsens der Kinder und deren gezielter Förderung liegt. Außerfamiliäre Betreuung ist eine weitere Funktion, aber nicht der eigentliche Zweck von Kindertageseinrichtungen. Denn diese unterstützen die Eltern auf pädagogisch-professionelle Weise, ersetzen aber nicht den elterlichen Erziehungsauftrag.

Kindertageseinrichtungen sind zukunftsorientierte und zukunftsoffene Einrichtungen, deren Angebot sich auf die heranwachsende Generation und deren Zukunftschancen richtet. Werden sie für kurzfristige politische Zwecke, wie derzeit etwa solche des Arbeitsmarktes, missbraucht, können sie ihren eigentlichen Zweck nicht mehr erfüllen, wodurch die gesellschaftliche Ordnung mittel- und langfristig in Gefahr gerät. Arbeitsmarktpolitische und wirtschaftliche Probleme lassen sich nicht über eine Zweckentfremdung von Bildungseinrichtungen lösen, sondern bedürfen systemimmanenter Lösungen dort, wo sie entstehen.

Der Fachkräftemangel ist Symptom einer Entwicklung, bei der arbeitsmarktpolitische, wirtschaftliche und demographische Probleme pädagogischen Institutionen und den dort Tätigen aufgeladen werden. Dies kann keine Lösung sein. Auf diese Weise entstehen gesellschaftliche Folgelasten, die wiederum der nachwachsenden Generation aufgebürdet werden. Das Qualifikationsniveau und in der Folge die tarifliche Vergütung abzusenken, ist keine angemessene Antwort, sondern wird die benannten pädagogischen wie gesellschaftlichen Folgen noch verschärfen.

Vielmehr bedarf es einen gesellschaftlichen Diskurses, wie Arbeitsmarkt und Wirtschaftssystem so transformiert werden können, damit Eltern wie pädagogische Einrichtungen gleichermaßen den ihnen je eigenen pädagogischen Auftrag erfüllen können, zum Wohle der Kinder und Jugendlichen wie der Gesellschaft insgesamt. Kindertageseinrichtungen erfüllen eine wertvolle und unverzichtbare Bildungsaufgabe für die Gesellschaft von morgen.

VI. Dafür stehen evangelische Ausbildungsstätten …

Der Bundesverband evangelischer Ausbildungsstätten für Sozialpädagogik (BeA) sorgt sich um die gesellschaftliche Zukunft – so der Tenor eines neuen Positionspapieres, das in Kürze veröffentlicht werden soll. Bildung und Erziehung sind genuine Aufgaben von Kindertageseinrichtungen. Indem der Verband dafür einsteht, engagiert er sich für eine zentrale Zukunftsaufgabe, die gesellschaftliche Entwicklung sowie ein humanes, friedvolles und gemeinwohlorientiertes Zusammenleben zu sichern.

Mit einer qualitativen Ausbildung Pädagogischer Fachkräfte leisten die evangelischen Fachschulen, Fachakademien und Berufskollegs einen wichtigen Beitrag, den Bildungsauftrag von Kindertagesstätten zu sichern. Im Mittelpunkt steht dabei das kindliche Bildungsrecht und die Ansprüche der Heranwachsenden auf angemessene Förderung und Unterstützung. Ausdrücklich ist zu betonen, dass auch der ebenso deutliche Fachkräftemangel in der Grundschulbetreuung sowie den Hilfen zur Erziehung nicht übersehen werden darf. Mit Sorge nehmen der Verband wahr, wie der Bildungsauftrag im Elementarbereich zunehmend zurückgedrängt wird. Den evangelischen Ausbildungsstätten für Sozialpädagogik ist in dieser Situation wichtig:

  1. Evangelische Fachschulen für Sozialpädagogik leisten einen unverzichtbaren Beitrag für die Ausbildung professioneller Pädagogischer Fachkräfte. Sie haben in den vergangenen Jahren durch neue Ausbildungsformate, die Gewährleistung einer qualitativ hochwertigen, kompetenzorientierten Theorie-Praxis-Verzahnung sowie innovative Kooperationen mit Hochschulen und internationalen Partnern einen entscheidenden Beitrag zur Fachkraftsicherung in der Kindertagesbetreuung geleistet. Sie können aber nicht wirtschaftliche, politische oder gesellschaftliche Ursachen des Fachkraftmangels lösen, die außerpädagogischen Ursprungs sind.
  • Evangelische Fachschulen für Sozialpädagogik treten für eine hohe Professionalität Pädagogischer Fachkräfte ein. Sie wollen das Qualifikationsniveau des Berufes, die hohe Bildungs- und Erziehungskompetenz Pädagogischer Fachkräfte und damit die Attraktivität und das gesellschaftliche Ansehen des Berufsbildes auch künftig sichern. Tendenzen, das Berufsbild zu deprofessionalisieren, indem Betreuungsaufgaben zunehmend den Bildungs­auftrag überlagern, treten sie deutlich entgegen.
  • Pädagogische Institutionen haben einen erziehungsergänzenden, nicht ersetzenden Auftrag, der Eltern in ihren Erziehungsaufgaben unterstützt. Daher treten die Evangelischen Fachschulen dafür ein, in der Diskussion um die Behebung des Fachkräftemangels in Kindertagesstätten und anderen sozialpädagogischen Arbeitsfeldern, die Erfüllung des Bildungs- und Erziehungsauftrages als unumstößliche, zu bewahrende Kernkompetenz anzuerkennen und zu erhalten.
  • Folgerichtig ist die Kindertagesbetreuung aus Sicht der Evangelischen Fachschulen konsequent als bildungsbiographisch wichtige Institution den Bildungsministerien zuzuordnen.

VII. Was braucht es aus Perspektive der Ausbildungseinrichtungen, damit dies gelingt?

Aufstiegsmöglichkeiten und Spezialisierungen

Erziehungsberufe müssen als ein wichtiges Arbeitsfeld in der Berufsorientierung wahrgenommen und sichtbar gemacht werden. Attraktive Erziehungsberufe bedürfen gesellschaftlicher Anerkennung, eines professionellen Selbstverständnisses und verlässlicher Karrierechancen, etwa durch vertikale Aufstiegsmöglichkeiten, etwa stellvertretende Einrichtungsleitungen, und horizontale Spezialisierungswege.

Auch Fachschulen in freier Trägerschaft, wenn die Schulträger nicht verbeamten, können engagierten Lehrkräften nur begrenzt Aufstiegsmöglichkeiten bieten. Angesichts wichtiger werdender Anstrengungen in der Mitarbeiterbindung, bleibt in vielen Fällen nur der Weg über eine horizontale Spezialisierung und Differenzierung.

Quereinstieg

Angesichts des Fachkräftemangels bedarf es kontinuierlicher, rechtlich verankerter Qualifizierungen für Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger in Erziehungsberufe, die bis zur Ebene eines Bachelor professional führen. Ein „Wildwuchs“ ist dabei zu vermeiden. Denn die Vermehrung unterschiedlicher Ausbildungsgänge erhöht allerdings für Schulen die Planungsunsicherheit und birgt für Schulen in freier Trägerschaft ein nicht unbeträchtliches wirtschaftliches und Planungsrisiko, wenn nicht alle Klassen gefüllt werden können.  

Auszubildende mit Migrationshintergrund

Eine besondere Herausforderung bleibt die Einmündung von Auszubildenden mit Migrationshintergrund in das angestrebte Berufsfeld, auch wenn – nicht nur bei diesem Thema – deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern auszumachen sind. Aus Sicht der Ausbildungsstätten wäre es wünschenswert, wenn die Verfahren hierzu erleichtert würden und mehr Bereitschaft zu Klugheits- oder Billigkeitsentscheidungen im Einzelfall bestünde. Das heißt im Besonderen:

  • Die Feststellung der Eignung für eine Weiterqualifizierung als Erzieher oder Erzieherin sollte niederschwellig möglich sein, zum Beispiel durch Eignungsfeststellungen nach den ersten sechs Monaten der Ausbildung. Das könnte zur Entbürokratisierung bei der Anerkennung von Abschlüssen durch übergeordnete Behörden führen.
  • Bei Bewerbern und Bewerberinnen, die bereits im Heimatland eine pädagogische Ausbildung oder ein pädagogisches Studium abgeschlossen und möglicherweise auch schon in einem pädagogischen Beruf gearbeitet haben, sollte die Anerkennung zügiger erfolgen.
  • Bei Anerkennung von Teilen der im Heimat- oder Herkunftsland erworbenen pädagogischen Qualifikation, könnte die Weiterqualifizierung in Deutschland unter Umständen verkürzt werden.
  • Zentral für eine gelingende Ausbildung und Berufseinmündung ist die Beherrschung der deutschen Sprache. Ausbildungsstätten könnten hier verstärkt Unterstützung anbieten, wenn die hierfür notwendigen Ressourcen gesichert wären. Die Pflegeberufe sind hier bereits weiter. Die Fachschule des Vortragenden konnte dank Drittmittelfinanzierung vonseiten von vier Stiftungen ein zusätzliches Wahlpflichtfach „Deutsch für Pädagogische Fachkräfte“ anbieten, das in diesem Fall durch die Pädagogische Hochschule Ludwigsburg wissenschaftlich begleitet wurde. Leider war eine Überführung in den Regelbetrieb nicht möglich gewesen.
  • Ist eine Anerkennung von mitgebrachten Qualifikationen für das angestrebte Berufsfeld nicht möglich, bedarf es innovativer Modelle. Die hierfür notwendigen Voraussetzungen können von den Ausbildungsstätten und Trägern allein nicht gestimmt werden, insbesondere die Qualifizierung in kleineren Lerngruppen mit individueller Lernbegleitung, zusätzlich finanziertem Coaching oder begleitender Sprachförderung.
  • Denkbar wären auch der Ausbildung vorgelagerte Module mit fachsprachlichem Schwerpunkt. Erfahrungsgemäß reicht es nicht aus, wenn allein ein bestimmtes Sprachniveau, gegenwärtig B2, vorgegeben wird
  • Denkbar wären auch durch die Fachschulen begleitete Praxisphasen vor Beginn der Ausbildung – insbesondere, da Träger teilweise Auszubildende aus dem Ausland nur dann einstellen, wenn diese bereits ein Jahr im Rahmen eines Freiwilligen Sozialen Jahres oder eines Praktikums im deutschen Kindertagesbetreuungssystem tätig gewesen sind. Wichtig hierfür bleibt, dass die Fachschulen in freier Trägerschaft angesichts eines gleichfalls bestehenden Lehrkräftemangels durch angemessen ausgestaltete Vorgaben der staatlichen Schulaufsicht auch in der Lage sind, ihren eigenen Personalbedarf zu decken.
  • Schließlich wären auch gegenseitige unterstützende Netzwerke zu nennen: Auszubildende mit Migrationshintergrund unterstützen Auszubildende in ähnlicher Situation mit dem Ziel der emotionalen Stärkung und Stützung, aber auch der Unterstützung und Beratung bei bürokratischen Herausforderungen, zum Beispiel im Rahmen der Anerkennungsverfahren oder beim Erlernen der notwendigen Fachsprache.

Privatschulfinanzierung

Der Ausbau der Ausbildungskapazitäten und der Aufbau neuer Ausbildungsgänge ging gleichzeitig einher mit einer Neugründung von Fachschulen und einem wachsenden Konkurrenzdruck auf dem Schülermarkt. Damit die Ausbildungskapazitäten nicht gefährdet werden, bedarf es für die Ausbildungsstätten einer verlässlichen Planungssicherheit und einer auskömmlichen Privatschulfinanzierung. Bei Finanzierung der Schulen in freier Trägerschaft lassen sich sehr deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern ausmachen.

Gleiches gilt für das Engagement und den Rückhalt vonseiten der verschiedenen Landeskirchen und Träger im Bereich des evangelischen Fachschulwesens.

Das AZAV-Qualitätsmanagement für Kooperationen mit den Jobcentern und Agenturen für Arbeit wird den fachschulischen Rahmenbedingungen nicht gerecht, bedeutet einen enormen Personal- und Ressourceneinsatz und bildet die tariflichen Bedingungen innerhalb von Kirche und Diakonie nicht ab – bei geringem Ertrag. Denn unter dem Strich kommen nur wenige Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den Schulen in evangelischer Trägerschaft an, da öffentliche Schulen in gleicher Trägerschaft wie die Jobcenter vorrangig bedient werden. 

Das Potential der Fachschulen nutzen

Wenn Manfred Müller-Neuendorf vor einigen Jahren gefragt hat: „Ist die Ausbildung der Erzieher und Erzieherinnen an Fachschulen noch zukunftsfähig?“, so ist diese Frage zu bejahen. Mittlerweile besteht ein differenziertes Geflecht unterschiedlicher Qualifizierungswege, das unterschiedlichen Bedürfnissen, Lebenssituationen, berufsbiographischen Erwartungen (etwa für Berufseinsteiger oder Berufswechsler) oder Lernwegen gerecht wird. Auszubildende mit unterschiedlichen Zugangsvoraussetzungen und Vorerfahrungen finden einen Zugang in das professionelle, sozialpädagogische Arbeiten mit Kindern und Jugendlichen. Was Müller-Neuendorf noch als Vision formulierte, ist heute für Fachschulen Realität: Durch neue Formen der Durchlässigkeit und Vernetzung haben die Fachschulen für Sozialpädagogik ihren Platz in einer differenzierten Ausbildungs- und Studienlandschaft behauptet.

Das fachliche Potential, die großen Erfahrungen und die Expertise einer ausdifferenzierten Fachschullandschaft sollten nicht verspielt, sondern gezielt genutzt werden. Fachschulen in freier und evangelischer Trägerschaft können Innovatoren für ergänzende Ausbildungsmodelle auf fachlich hohem Niveau und auf Basis einer besonderen Expertise im Umgang mit Vielfalt und in der Unterstützung von Menschen sein.

Eine erweiterte Schriftfassung für eine Sammelbandveröffentlichung ist in Planung.