„Zweifel an Leistungsfähigkeit deutscher Schulen“ – so titelt die WELT am Sonntag in ihrer Ausgabe vom 23. Juni 2024. Jeder fünfte Bundesbürger beurteile die Bildungseinrichtungen hierzulande mit „mangelhaft“ und „ungenügend“, im Ergebnis stellen die Deutschen ihrem Schulsystem eine knappe Drei aus. War vor fast einem Vierteljahrhundert vom „PISA-Schock“ die Rede, bleibt die Bildungsethik angesichts der jüngeren Ergebnisse Deutschlands in den verschiedenen Bildungsvergleichsstudien erstaunlich stumm. Der Bildungsökonom Ludger Wößmann wertete die Ergebnisse laut der WELT am Sonntag als „Alarmsignal“. Bessere Schulen müssten in der Politik oberste Priorität genießen.
Wer wollte widersprechen!? Doch was ist zu tun? Der Budeselternrat fordert kurzfristige Konzepte gegen den Lehrermangel. So fehlten laut Kultusministerkonferenz landesweit sechzehntausend Lehrkräfte. Der Bildungsforscher und Vorsitzende der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz, Olaf Köller, mahnt eine möglichst früh beginnende Sprachförderung an, bereits im Kindergarten, am besten von Geburt an. Die Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes, Susanne Lin-Klitzing, fordert, den Lehrerberuf attraktiver zu machen.
Lehrermangel, eine wachsende Zahl an Zuwandererkindern mit mangelnden Deutschkenntnissen, Nachwirkungen der Coronapolitik … Gründe für den Niedergang des deutschen Schulsystems gibt es viele. Als Reaktion hierauf werden die üblichen Maßnahmen gefordert: mehr Geld für Bildung, schnellere Veränderungen, mehr Integration, eine forcierte Digitalisierung und eine Sanierung maroder Schulbauten. Erst vor ein paar Tagen erregte Aufmerksamkeit, dass der schlechte Zustand vieler Schultoiletten zum „Gipfelthema“ der Kultuspolitik avancieren soll.
Über eines wird aber auch jetzt wieder einmal erstaunlich wenig geredet: das gesellschaftlich vorherrschende Bildungsverständnis und den Verlust an Erziehung. Es ist der bekannte Kolumnist Harald Martenstein, der in derselben WELT am Sonntag ein paar Seiten weiter schreibt: „Kaum eine Verrücktheit, die dieser Staat seinen Kindern erspart hätte – ein paar Beispiele: Rechnen ohne Zahlen, Schreiben nur nach Gehör und ohne Rechtschreibung, gemeinsame Klassen mit Kindern, die unter schweren Verhaltensstörungen leiden und Unterricht manchmal fast unmöglich machen. Und Sportfeste, bei denen Stoppuhren verpönt sind, weil Leistung angeblich unwichtig und Wettbewerb menschenfeindlich ist.“ Schnellere Veränderungen sind kein Selbstzweck, die Schulen sind schon allzu oft zum „Experimentierfeld des Sozialutopismus“, wie Martenstein es nennt, gemacht worden. Und wenn man dem Psychologen Jonathan Haidt mit seinem neuen Buch „Generation Angst“ glauben will, geschieht dies aktuell einmal mehr durch eine Kultur der Digitalisierung, die jedes Klassenzimmer mit W-LAN ausstattet – oft nicht zum Unterrichten, sondern um der beständigen Verfügbarkeit von Social Media und Co. willen. Wer in der Pause in Klassenzimmer schaut, sieht häufig Schüler, die einzeln mit ihrem Smartphone beschäftigt sind, gamen oder chatten, aber nicht miteinander reden.
Die smartphonebasierte Kindheit löse nach Haidt die spielbasierte ab. Was die ständige Vernetzung über Smartphone, Social Media und WhatsApp bei den Heranwachsenden auslöse, ist für den New Yorker Wissenschaftler ein ungesteuertes Experiment, bei dem die jungen Menschen zu „Versuchskaninchen für eine radikal neue Form des Heranwachsens“ gemacht würden.
All dies würde für mehr, statt weniger Erziehung sprechen. Doch der Erziehungsauftrag von Schule wie Familie ist aus der öffentlichen Bildungsdebatte und auch der Erziehungswissenschaft verschwunden, von vereinzelten Ausnahmen, die eher die Regel bestätigen, einmal abgesehen. Mehr Geld, mehr Ausstattung, mehr Digitalisierung – aber kein Wort davon, wie Heranwachsenden Freude an Bildung, gesundes Leistungsstreben, Anstrengungsbereitschaft, die zum Lernen notwendige Disziplin und die Bereitschaft zum Üben vermittelt werden können. Einiges davon ist sicher auch durch den coronapolitisch erzwungenen Unterricht am Bildschirm auf der Strecke geblieben. Wenn es eine Lehre aus dieser Zeit gibt, dann die, dass Bildung und Lernen nicht allein technischer Instrumente bedürfen, sondern erzieherischer Grundlagen. Diese müssen in Familie und Schule gelegt werden, letztere hat nur eine familienunterstützende Aufgabe. Eines muss dabei betont werden: Schule ist für guten Unterricht zuständig. Hierfür brauchen Lehrer den notwendigen Rückhalt, pädagogische Freiheit und eine Entlastung von pädagogikfremden Aufgaben. Aber Schule kann nicht das selbsttätige Üben ersetzen – und gerade dieses fehlt häufig, worüber in den aktuellen Klagen über die mangelnde Leistungsfähigkeit des deutschen Schulsystems aber nicht gesprochen wird, auch nicht in der eingangs zitierten WELT am Sonntag.