„Wie hältst Du’s mit der Religion?“ –
Gebete, Rituale, Weltreligionen: Zum Umgang mit Religion außerhalb der Religionspädagogik
Vortrag im Rahmen der Pfingstakademie des Kardinal-von-Galen-Kreises „Frischer Wind durch Neuevangelisierung“ am 15. Juni 2024 im Kloster Maria Engelport in Treis-Karden (eine schriftliche Tagungsdokumentation ist in Vorbereitung)
„Die Jugend ist in Ehrfurcht vor Gott, im Geiste der christlichen Nächstenliebe, zur Brüderlichkeit aller Menschen und zur Friedensliebe, in der Liebe zu Volk und Heimat, zu sittlicher und politischer Verantwortlichkeit, zu beruflicher und sozialer Bewährung und zu freiheitlicher demokratischer Gesinnung zu erziehen.“ –
So heißt es in Artikel 12 der baden-württembergischen Verfassung. Ähnliche Beispiele lassen sich auch in anderen Landesverfassungen finden, etwa hier in Rheinland-Pfalz. Derartige Formulierungen lösen, wie ich erlebt habe, in Lehrveranstaltungen immer wieder Verwunderung oder auch vehementen Widerspruch aus. Darf der Staat ein Bekenntnis zu Gott vorschreiben? Soll der Staat nicht vielmehr weltanschaulich neutral sein? Passt ein solcher Anspruch noch zu einer pluralen und offenen Gesellschaft? Und tatsächlich erhitzen sich gerade am Gottesbezug der Verfassung immer wieder die Gemüter. So war es bei der EU-Verfassung gewesen, so war es vor sieben Jahren einmal mehr in Schleswig-Holstein zu beobachten gewesen.
Die folgenden Gedanken gliedern sich in zwei Teile. In den sozialethischen Überlegungen des ersten Teils geht es um die Frage, welche Rolle religiöse Bezüge für den weltanschaulich neutralen, freiheitlichen Rechts- und Verfassungsstaat spielen sollten. Gefragt wird:
1. Warum bleibt ein Letztbezug für den Staat wichtig?
2. Warum sollte sich der Staat zu seinen religiösen Wurzeln bekennen?
3. Welche Herausforderungen stellen sich in der pluralen Gesellschaft?
Wie können wir pädagogisch über Religion sprechen? Die didaktische Überlegungen im zweiten Teil greifen drei Aspekte auf: Gebet, Rituale und Interreligiöses Lernen.
I. AUS SOZIALETHISCHER PERSPEKTIVE: BRAUCHT DAS ÖFFENTLICHE LEBEN NOCH RELIGION?
1. Warum bleibt ein Letztbezug für den Staat wichtig?
Es geht – wie auch bei der religiösen Eidesformel – nicht um ein persönliches Credo oder ein bestimmtes konfessionelles Gottesbild, sondern um eine kulturethische Aussage. Mit dieser trifft der Verfassungsgesetzgeber eine gewichtige Wertvorentscheidung: „Es geht um die Anerkennung einer Verantwortung über die bloße Mehrheitsmeinung oder Opportunität hinaus.“ – so der Kulturpolitiker Thomas Sternberg einmal in der Zeitschrift „engagement“. Es geht um die Gründung der sittlichen Person, die noch einer anderen Instanz, ihrem Gewissen, gegenüber verpflichtet ist. Und es geht um die Rückversicherung gegenüber totalitären Tendenzen – wider eine Selbstüberschätzung des Menschen, wider einen Staat, der sich absolut setzt, wider jede Form des Materialismus, der den Menschen in letzter Konsequenz nur mehr als Funktionär der sozialen Verhältnisse betrachtet, ihm aber letztlich keine höheren geistigen Antriebe, Interessen oder Ziele zuzugestehen vermag. Der Gottesbezug hält jene Leerstelle offen, ohne die letztlich auch die Freiheit des Menschen auf der Strecke bliebe. Wir Deutschen haben dies in zwei Diktaturen schmerzlich erfahren.
Die Ideologie der Freiheit darf niemals mächtiger werden als die konkrete Freiheit des Einzelnen. Denn der Mensch muss selbst bestimmen können, wer er sein will und wie er leben will. Dies verleiht ihm eine besondere, nur ihm eigene Würde. Der Mensch hat aber nicht allein die Fähigkeit, sondern auch die Verpflichtung, sich zu entscheiden.
Dabei ist eine „Erziehung zur Ehrfurcht“ vor Gott – oder wie anders wir davon sprechen wollen –, zur Freiheit im Denken und Handeln sowie zur sittlichen Verantwortung genauso wenig wie Liebe, Freundschaft oder Vertrauen operationalisierbar. Daran ist besonders zu erinnern in Zeiten, in denen Bildung oftmals so etwas wie das neue Heilsversprechen der säkularisierten „Wissensgesellschaft“ geworden ist. Ein solcher Letztbezug schützt davor, den Anspruch auf Bildung quasireligiös zu überhöhen, in Gestalt einer pädagogischen Kontrollgesellschaft, einer Erziehungsdiktatur oder durch manipulative Pädagogisierung aller Lebensbereiche. Die seinerzeitige Auseinandersetzung um die Bildungsplanreform in Baden-Württemberg, aber auch die aktuellen Debatten um Identitätspolitik, Gendererziehung oder Diversitypädagogik zur „Akzeptanz von Vielfalt“ zeigen, welches Konfliktpotential hier schlummert.
Ohne Letztbezug im weitesten Sinne, so die Überzeugung der Verfassungsväter, wäre eine Bildung der sittlichen Person gar nicht denkbar. Bildung kann zwar den Raum eröffnen, die Sinnfrage zu stellen, einen letzten Lebenssinn findet der Einzelne in ihr jedoch nicht. Bildung verweist den Einzelnen auf sich selbst, seinen Lebenssinn zu suchen und jene Wahrheit zu erkennen, die ihn frei macht – frei jenseits aller menschengemachten Bildungsanstrengungen.
2. Warum sollte sich der Staat zu seinen religiösen Wurzeln bekennen?
Auch wenn die Gottesformel nichtkonfessionell gemeint ist und für unterschiedliche individuelle Bekenntnisse offen bleibt, ist sie keineswegs wertneutral. Dies zeigt schon die Formulierung selber. Es fällt zunächst auf, dass von Gott im Singular die Rede ist. Und scheint nicht auch dahingehend eine Festlegung vorzuliegen, indem an einen Gott gedacht wird, der das Leben und die Würde des Menschen bejaht oder sogar begründet?
Der neuzeitliche Staat ist nicht mehr etwas Selbstzweckhaftes; er bedarf vielmehr selbst der Legitimation. Der Verfassungsgesetzgeber versichert sich mit dem Bezug auf Gott einer Legitimationsgrundlage des staatlichen Handelns, die ohne Religion oder zumindest religionsoffene Philosophie nicht auskommt. Die Gottesformel markiert als „Leerstelle“ jenes geistige Fundament, auf dem unser Gemeinwesen aufruht und das der moderne Staat nicht selbst garantieren kann. Wir finden den Bezug auf Gott in dieser kulturethischen Bedeutung zur Zeit der Befreiungskriege beispielsweise in studentischen Stammbüchern, bei Theodor Körner oder im „Ermunterungslied“ von Ernst Moritz Arndt aus dem „Katechismus für teutsche Soldaten“.
Der Nationalstaat hat nicht ohne das Ringen mit der Kirche das Licht der Welt erblickt, der Kulturkampf in Deutschland hat bis heute Spuren hinterlassen. Die Hochzeiten nationaler Lutherdeutung und die für Deutschland prägenden „Los-von-Rom-Mythen“ waren alles andere als frei von antikirchlichen und antiklerikalen Affekten. Doch auch der säkularisierte Nationalstaat kann nicht gänzlich auf ein geistiges Fundament verzichten.
Ein sprechendes Bild wird gern verwendet, wenn verdeutlicht werden soll, was die Idee des christlichen Abendlands ausmacht: Europa – mit seinen geschichtlichen Höhen wie Tiefen – gründe auf drei Hügeln: Golgatha, Areopag und Kapitol. Die drei genannten Berge stehen für jene drei Traditionen, die alle zusammengenommen das Spezifikum abendländischer Geistesgeschichte und der damit verbundenen Leistungen ausmachen: die Idee christlicher Barmherzigkeit und Solidarität, die Vorstellung von Demokratie, Individualität und autonomer Wissenschaft sowie den Anspruch auf Herrschaft des Rechts und Naturrecht. Die Verbindung von christlicher Erlösungsvorstellung, griechischer Philosophie und römischem Rechtsdenken zeigt sich auch noch in ihren säkularisierten Fassungen – z. B. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Der Historiker Heinrich August Winkler hat aufgezeigt, wie sich diese Verbindung zu Beginn der Moderne in Aufklärung und Französischer Revolution äußert, bis heute Gestalt und Bewusstsein Europas prägt und diesen Kontinent zusammenhält. Hoffentlich auch künftig.
Wir haben uns daran gewöhnt, in einem stabilen, demokratischen Rechts-, Sozial- und Kulturstaat zu leben. Doch selbstverständlich ist das keineswegs. Und so täten wir alle gut daran, mit den kulturellen Grundlagen unseres Staatswesens nicht allzu sorglos umzugehen. So etwa bei der Debatte über die Bibelinschrift auf der Kuppel des Berliner Stadtschlosses zu erleben. Umstritten ist auch das Kreuz im öffentlichen Raum, sei es im Münsteraner Friedenssaal beim G7-Gipfel, in bayerischen Behörden oder auf Berggipfel, wenn man Touristen aus arabischen Staaten anlocken will.
Das Kreuz – etwa im Gerichtsgebäude – erinnert auch im säkularen Staat daran, dass irdische Gerechtigkeit immer fehlbar bleibt und wir noch einer anderen Instanz, nennen wir sie Gott oder Gewissen, verantwortlich bleiben. Ankläger und Zeugen werden daran erinnert, nicht leichtfertig oder gar falsch Zeugnis gegen andere abzulegen, Richter daran, das Recht nicht zu beugen oder leichtfertig Urteile zu sprechen.
Jeder Einzelne besitzt eine unveräußerliche Würde. Im sozialen Rechtsstaat wird diese in der Anerkennung vorstaatlicher Menschenrechte konkret. Allerdings kann der Wille zum Recht rechtsimmanent allein nicht gesichert werden. Ein formaler Verfassungspatriotismus genügt als Ethos nicht, um die Menschenrechte dauerhaft zu sichern. Hierfür braucht es eine tiefergehende religiöse oder ethisch-humanistische Motivation.
Der Mensch ist mehr als ein Funktionär der sozialen Verhältnisse. Lebendig, geistig vital und schöpferisch bleibt ein Gemeinwesen nur dann, wenn seine Bevölkerung nicht allein funktional qualifiziert ist, sondern umfassend gebildet. Hierzu gehört ein Wissen um die eigene kulturelle Herkunft und Identität. Diese sind nicht beliebig austauschbar. Ein Staat, der sein kulturelles Gedächtnis verliert und in dem es keine verlässlichen Gemeinsamkeiten mehr gibt, muss den Verlust an Integrationskraft durch Kontrolle und Steuerung ersetzen.
In der Staatsidee des Alten Reiches und auch seinen Nachfolgeterritorien verbinden sich griechische Memoria und römische Res publica zur Vorstellung eines öffentlichen Wohls, zum Streben nach Frieden und Gemeinwohl. Dies sollte nicht vergessen werden. Die Identität unseres Gemeinwesens ist weder vom Himmel gefallen noch in einem weltanschaulichen Vakuum entstanden. Sie ist historisch-konkret gewachsen, und zwar in einem Prozess, in dem religiöse, kulturelle und politische Werte nicht zu trennen sind. Wer dies nicht sehen will, sollte die Kultur unseres Zusammenlebens einmal mit der konkreten Praxis in anderen Regionen, etwa islamischen Ländern, vergleichen. Er wird Unterschiede feststellen.
Das Kreuz steht nicht allein für Heimat, Geborgenheit oder regionale Brauchtumspflege – das wäre zu wenig. Das Kreuz steht für die kulturellen Wurzeln, aus denen unser demokratischer Rechts-, Sozial- und Kulturstaat lebt. Dieser darf Flagge und Kreuz gleichermaßen zeigen. Es ist kein Missbrauch des Kreuzes oder die Enteignung einer Religion, wenn sich unser Staat auf seine Wurzeln besinnt und diese im öffentlichen Raum präsent hält. Er wird dadurch auch nicht übergriffig, sofern er nicht den Einzelnen zu religiösen Bekenntnisakten zwingt. Intoleranz gegenüber Religion entsteht im Gegenteil leichter dort, wo diese als etwas Bedrohliches erscheint und öffentlich nicht mehr verstanden wird.
Der Staat verletzt auch nicht die notwendige Pluralität unserer Gesellschaft oder das Toleranzgebot, wenn seine Akteure darauf hinweisen, dass die kulturellen Grundlagen des Gemeinwesens und die Identität des Staatsvolkes nicht beliebig austauschbar sind. Wollten wir uns auf andere Erzählungen festlegen, aus denen sich das historisch-geistige Erbe unseres Zusammenlebens speist, würde sich das gesellschaftliche Ethos unweigerlich ändern. Ja, selbst der Streit über das Kreuz als religiöses und kulturelles Symbol setzt die besondere abendländische Prägung unserer Rechts- und Verfassungsordnung voraus, die sich unter anderem in der Trennung von religiöser und politischer Sphäre bei gleichzeitiger Kooperation beider Gewalten äußert.
Differenzierter als Reinhard Kardinal Marx hatte sich im Streit um den bayerischen Kreuzerlass sein evangelischer Amtsbruder Heinrich Bedford-Strohm in der Frankfurter Allgemeinen zu Wort gemeldet. Schon Paulus habe gewusst, wie sehr das Kreuz polarisiert: Den Griechen bleibt es eine Torheit, den Juden ein Ärgernis. Zu Recht wies der seinerzeitige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland darauf hin, dass sich das Kreuz nicht vorschnell vereinnahmen lasse: Es zwinge staatliches Handeln zur Demut und bewahre vor der Versuchung des Totalitarismus. Die rechtmäßige, in biblischer und sozialethischer Tradition gut begründete Gewalt des Staates bedürfe normativer Grundlagen, wenn sie nicht zum Unrecht einer Räuberbande mutieren solle. Das Kreuz bleibe aber auch eine Anfrage an die Kirche, die sich vor allzu vorschnellen politischen Heilsgewissheiten in vorletzten Fragen hüten sollte.
Das Kreuz ist öffentlich, weil auch der Tod Jesu ein öffentliches Ereignis war. Das Kreuz ist politisch relevant, weil es aus christlicher Sicht eine Wahrheit über Gott und den Menschen ausdrückt. Es ist aber nicht parteipolitisch, so als könnten aus ihm eins zu eins Forderungen für die Tagespolitik abgeleitet werden. Das Kreuz in öffentlichen Gebäuden kann das harte Ringen um eine an Recht und Gerechtigkeit orientierte Politik in Verantwortung vor Gott und den Menschen nicht ersetzen. Vor dieser Aufgabe stehen Christen wie Nichtchristen gleichermaßen.
3. Welche Herausforderungen stellen sich in der pluralen Gesellschaft?
Heute stellt sich die Frage, wie das christliche Erbe in einer zunehmend pluraler gewordenen Gesellschaft verstanden und bewahrt werden kann. Doch geht es, wie der Bezug auf die abendländische Idee gezeigt hat, beim Verhältnis des Staates zur Religion um mehr als ein konfessionelles Bekenntnis. Die christliche Identität besitzt für unser Gemeinwesen eine weitergehende kulturethische Bedeutung: für Politik und Kultur, für Bildung und Wissenschaft, für unser Zusammenleben in Staat und Gesellschaft. Nicht zuletzt die Trennung von religiöser und politischer Sphäre – nach der unnachahmlichen Formel „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.“ – bei gleichzeitiger Kooperation beider Gewalten wäre bedroht – und damit ein wichtiges Moment, das sich in der abendländischen Geistes- und Kulturgeschichte äußerst produktiv ausgewirkt und gewaltige Leistungen freigesetzt hat. Ob wir diese Tradition angesichts der demographischen Entwicklung, säkularer Tendenzen auf der einen und vermehrter Einwanderung auf der anderen Seite bewahren können, ist auf längere Sicht keineswegs ausgemacht.
In Baden-Württemberg hat Michael Rux, Ehrenmitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, einmal mehr für den Südwesten gefordert, den Religionsunterricht zugunsten eines für alle verbindlichen Faches Ethik/Religionskunde abzuschafffen. Er beruft sich dabei auf eine neue Studie von Hartmut Kreß, emeritierter evangelischer Sozialethiker in Bonn, in der es heißt: „In den Schulen des weltanschaulich neutralen Staates ist der derzeitige Religionsunterricht zum Fremdkörper, zur konfessionellen Exklave geworden.“ Religionskunde statt Religionsunterricht – für Rux wie Kreß ein Schritt religionspolitischer „Normalisierung“. An dieser Stelle soll nichts gegen einen fundierten Ethikunterricht gesagt werden. Aber Ethikunterricht ist innerhalb des gesellschaftswissenschaftlichen Aufgabenfeldes der Schule kein Ersatz für Religionsunterricht, sondern ein eigenständiges, fachdidaktisch anders strukturiertes Fach.
Wir werden den christlichen Referenzrahmen nicht schadlos durch andere Traditionen ersetzen können. Würden wir uns auf andere Traditionen festlegen, würden sich auf Dauer unser Gemeinwesen und dessen Moral erheblich verändern. Es steht mehr auf dem Spiel als liebgewordene „Folklore“, wenn wir St. Martin durch ein „Sonne-Mond-und-Sterne-Fest“ ersetzen, an Weihnachten nur noch unspezifische „season’s greetings“ versenden oder Ostern zum „Hasenfest“ herabstufen. Wer weiß, wie lange unsere Feiertagskultur in dieser Form noch erhalten bleibt. Das Tanzverbot am Karfreitag wird kaum noch verstanden, verkaufsoffene Sonntage durchlöchern den verfassungsrechtlich geschützten Sonntag und einzelne Parteien oder Politiker fordern immer mal wieder, einen Teil der christlichen Feiertage durch nichtchristliche oder auch bewusst religionsfreie Feiertage zu ersetzen. In einer Glosse hatte ich einmal den Welttag des Lehrers als neuen Feiertag vorgeschlagen, unbelastet von religiösen Bezügen, Bildung unbestreitbar und immer gut – und bestens geeignet für einen herbstlichen Kurzurlaub, da nur durch einen Brückentag vom Einheitsfeiertag getrennt.
Die evangelische Theologin Christiane Thiele etwa hat 2020 im Deutschlandfunk vorgeschlagen, den Pfingstmontag zu streichen, zugunsten des Versöhnungstages Jom Kippur. Aufmerksamkeit an Pfingsten war ihr gewiss, auch wenn die Idee keineswegs neu ist. Was an Thieles Vorschlag auffiel, war die Begründung. Bei Lichte besehen, ging es der umtriebigen Theologin gar nicht um das Judentum. Ein allgemeines Versöhnungsfest soll es werden. Denn Versöhnung sei für alle Menschen wichtig. Die christliche Feiertagskultur – oder was von ihr überhaupt noch übrig ist – taugt am Ende nur noch als Verschiebemasse. Religiöse Inhalte werden aufgelöst in einen allgemeinen, schwammigen Humanismus, der irgendwie für alle zustimmungsfähig sein soll.
Drei Aspekte möchte ich benennen, warum die Frage nach Religion für einen stabilen, vitalen Kulturstaat unverzichtbar bleibt.
3.1 Befähigung zum Reden über Religion
Wo Lebensverhältnisse krisenhaft und kontingent werden, stellen sich religiöse Fragen neu. Wer angesichts der vorhandenen Vielfalt an Lebenskonzepten, Wertorientierungen und Sinnangeboten nicht gelernt hat, sich zu entscheiden, über den wird sehr leicht entschieden aber eben von anderen. Diese Entscheidungsfähigkeit zu vermitteln, bleibt eine wichtige Aufgabe von Bildungs- und Erziehungsgemeinschaften.
Zugleich bedarf unser gemeinsames Zusammenleben sinnstiftender Lebensdeutungen, der Verpflichtung auf verfahrensrechtliche Tugenden, und es braucht einen substantiellen Mindestkonsens an formaler Sittlichkeit. Bürgersinn oder zivilgesellschaftliches Bewusstsein stehen nicht einfach als Ressource zur Verfügung. Diese Ressource muss gepflegt werden. Dabei können Politik, Wirtschaft und Gesellschaft nicht darüber hinwegsehen, dass ihre jeweiligen Sachbereiche auch unter der Bedingung des Pluralismus weiterhin religiös bestimmt werden.
Die Ausbildung einer kulturellen oder religiösen Identität sowie die Entwicklung sozialer Integrationsfähigkeit werden nur als ein subjektiv bestimmter, aktiv zu gestaltender Prozess gelingen. Religiöse Bildung ist nicht von den Anforderungen einer wie auch immer gedachten staatsbürgerlichen Religion her zu denken, sondern vom sich bildenden Subjekt.
Die für die Moderne geltende Autonomie der Bildung setzt eine eigene religiöse Praxis nicht zwingend voraus. Gleichwohl wird aber von umfassender Persönlichkeitsbildung nur dann gesprochen werden können, wenn der Einzelne in der Lage ist, sich selbst und die Welt um sich mit Bezug auf religiöse Sprachformen wahrzunehmen und zu werten. Religiöse Lernprozesse bleiben unverzichtbarer Bestandteil des allgemeinen Bildungsauftrags – nicht im Sinne religiöser Rede, sondern im Blick auf die Befähigung zum Reden über Religion. Wo Religion nicht mehr verstanden wird, erscheint sie schnell als etwas Bedrohliches, das es zu verbannen, zu domestizieren oder zu bekämpfen gilt. Wo über Religion nicht mehr geredet werden kann, werden wir vieles nicht mehr verstehen und einordnen können: weder Lessings Nathan den Weisen noch die religiöse Ursache weltpolitischer Konflikte, weder entscheidende Wegmarken abendländischer Geschichte noch die Sprache der Kunst oder Musik.
3.2 Toleranz meint nicht Neutralität
Heute geht es vorrangig darum, Freiheitseinschränkungen durch einen übergriffig werdenden Säkularismus zu verhindern, häufig im Namen fehlverstandener Toleranz. Die Wirksamkeit des modernen Staates in religiösen Dingen bleibt um der personalen Freiheit des Einzelnen willen begrenzt – und zwar sowohl im Blick auf die Förderung bestimmter konfessioneller Bekenntnisse als auch umgekehrt im Blick auf einen forcierten Prozess vermeintlich neutraler „Demokratisierung“ aller Lebensbereiche, der Religion weitgehend aus dem öffentlichen Leben ausklammert und gerade durch die Verleugnung weltanschaulicher Horizonte selbst zur Weltanschauung wird. Beide Grenzen werden gegenwärtig prekär: Ob einerseits der Staat im Zuge des neueingeführten, stark integrationspolitisch motivierten Islamunterrichts die Grenzen seiner eigenen Wirksamkeit in religiösen Dingen tatsächlich einhält, wird sich auf Dauer erst noch erweisen müssen. Ich habe hier meine Zweifel.
Andererseits erweckt die Ausdehnung menschenrechtlicher Forderungen nach Ende der Blockkonfrontation und die Berufung auf eine fast schon quasireligiös überhöhte Kultur der Menschenrechte in jüngerer Zeit den Eindruck, hier könnte eine neue Zivilreligion entstehen, die letztlich den Rückgriff auf religiös-weltanschauliche Horizonte gänzlich überflüssig machen soll und jegliche konfessionelle Identitätsbildung fast schon als Sakrileg betrachtet. Welche Vereinigung könnte es sich dann noch erlauben, bestimmte konfessionelle Merkmale zur Voraussetzung einer Mitgliedschaft zu machen, ohne in den Ruf zu gelangen, vermeintlich „undemokratisch“ und ausgrenzend zu sein. – Am Rande gesagt: Die Kirchen wiederum erwecken mitunter den Verdacht, der Rekurs auf die Menschenrechte könne eigene theologische Anstrengung ersetzen; so entsteht der Eindruck, die menschenrechtliche Forderung selbst sei schon die eigentliche „Botschaft“ der Kirche.
Wo weltanschauliche Bindungen abgelöst werden sollen und der öffentliche Streit um das bessere Argument ersetzt wird durch das Tabu – in Gestalt eines vermeintlich neutral gedachten „demokratischen Habitus“ –, besteht leicht die Gefahr, den Einzelnen – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne gesellschaftspolitisch erwünschter Meinungen zu überwältigen. „Demokratisierung“ wird dabei missverstanden als Gleichschaltung des öffentlichen Raumes.
Keine Werterziehung aber wird ohne Rückgriff auf letzte Grundüberzeugungen die verwirrende Vielzahl an Werten in eine stimmige Ordnung bringen können. Die staatliche Neutralität in religiösen Dingen meint die Diskriminierungsfreiheit religiös-weltanschaulicher Überzeugungen, nicht deren Neutralisierung oder Nivellierung zu einer staatlich betriebenen, einheitlichen Zivilreligion. Rolf Schieder hat dies im „Handbuch Interreligiöses Lernen“ pointiert auf den Punkt gebracht: „Eigentlich will man eine staatseigene Zivilreligion, wagt aber nicht die offene Konkurrenz mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften, sondern erklärt sich selbst für ‚neutral‘, womit die Religionsgemeinschaften eo ipso parteiisch sind. Das Motto lautet: Die anderen sind religiös, wir sind normal.“
Wie weit religiöse Bezüge im öffentlichen Leben zulässig sein sollen, wird nicht allein von der Exekutive oder den Gerichten zu entscheiden sein; eine legitimatorische Selbstbedienungsmentalität des Staates in Wertfragen könnte leicht die Folge sein. Diese Frage muss im gesellschaftlichen Diskurs verhandelt werden, Entscheidungen bedürfen der parlamentarischen Legitimation. Auch auf europäischer Ebene müssen diese Fragen ernsthaft verhandelt werden, wenn es nicht durch judikative oder exekutive Alleingänge zu Verwerfungen innerhalb der nationalen Gesellschafts- und Rechtstraditionen kommen soll. Diese reichen innerhalb der EU von staatskirchenähnlichen bis zu laizistischen Modellen. Eine europäische Harmonisierung ohne Konflikte scheint kaum vorstellbar, sollte eine solche überhaupt wünschenswert sein.
3.3 Pflege der eigenen Identität
Ein Verständnis für das Fremde wird sich nur vom Standpunkt des Eigenen her entwickeln können, in wechselseitiger Verschränkung von Selbst- und Fremdverstehen. Gelingender interkultureller und interreligiöser Austausch setzt voraus, dass alle Beteiligten auch etwas haben, das sie einbringen können – andernfalls kommt der Austausch letztlich zum Erliegen. Die Andersartigkeit des anderen zeichnet sich erst vor dem Hintergrund des Eigenen ab – und erst dann kann der Einzelne auch ein begründetes Urteil fällen. Wo alles gleich ausfällt, kann nicht mehr argumentativ gestritten werden. Eine zwar religionsfreundliche, aber letztlich plural-indifferente (Lern-)Umwelt wird religiöse Identitätsbildung eher erschweren als erleichtern. Dies hat nicht allein individuelle Folgen, sondern auch gesellschaftliche. Gelingende Integration setzt das Vorhandensein einer Kultur voraus, in die hinein Integration überhaupt möglich ist.
Erfahrungen von Fremdheit und Irritation sind dabei nicht ausgeschlossen. Sie können niemals vollständig überwunden, sondern nur reflexiv bearbeitet werden. Toleranz ist nicht pädagogisch-intentional zu erzeugen, sie wird aber dort leichter fallen, wo religiöse Fragestellungen pädagogisch, akademisch, kulturell oder politisch nicht als Störfaktor ausgeklammert werden, sondern als Anlass zur geistigen Auseinandersetzung begriffen werden. Wer Religion verstehen will, muss auch Kontakt zu praktizierter Religiosität besitzen.
Jede Gesellschaft, die handlungsfähig bleiben will, braucht „eine symbolische Vorstellung von sich selbst“. Bei tragischen Ereignissen wird mehr als deutlich, dass der Staat auf Religion nicht verzichten kann und will. Aus historischen Gründen sind wir in Deutschland sehr zurückhaltend mit der Pflege einer eigenen Zivilreligion und haben deren Aufgaben vielfach an die großen Kirchen delegiert. Der religiöse Pluralismus bringt es zwangsläufig mit sich, den Kreis derjenigen Akteure zu öffnen, die am zivilreligiösen Konsens mitarbeiten. Der liberale Rechts- und Verfassungsstaat kann die gesellschaftlichen Teilsysteme nicht an eine gemeinsame, für alle verbindliche Weltanschauung binden. Umgekehrt bleibt das politische System aber grundsätzlich darauf angewiesen, dass die verschiedenen Bekenntnisse dieses auch aus religiösen Gründen anerkennen. Nicht umsonst gründet das kooperative Staat-Kirche-Verhältnis darin, dass Bischöfe nach ihrer Ernennung den Eid auf die Verfassung ablegen müssen.
Im Falle der großen Kirchen hat sich diese wechselseitige Anerkennung in langer Übung und nicht ohne leidvolle Erfahrungen ausbalanciert. Treten neue Akteure in den Diskurs um die zivilreligiöse Frage ein, muss dies keinesfalls konfliktfrei vonstattengehen. Es bleibt abzuwarten, ob sich auch im Fall des Islams eine solche Balance einstellen wird, wenn dieser eine zunehmend gewichtiger werdende gesellschaftliche Rolle spielen sollte. Die Rede von einem „europäischen Islam“ suggeriert dies. Doch scheint das zivilreligiöse Konfliktpotential, das hier schlummert, gegenwärtig durchaus unterschätzt zu werden, genauso wie die emotionalen Verwerfungen, die drohen, wenn eine erstarkende Religion offensiv Felder besetzt, auf denen das Christentum an Terrain verliert.
4. Zwischenfazit
Religion und Politik brauchen einander, soll sich nicht jeweils eine Seite absolut setzen – was in der Geschichte noch nie gut ausgegangen ist. In der zivilreligiösen Fragestellung zeigt sich, wie religiöse und politische Fragen miteinander verwoben sind. Denn die politisch denkenden Bürger sind zugleich Träger religiöser Haltungen im weitesten Sinne – und umgekehrt. Daher wird es keine Zivilreligion ohne Bezug zur verfassten Religion geben können, wie umgekehrt die verfasste Religion stets auf politische Rahmenbedingungen trifft. Bildung und Wissenschaft sind Orte, dieses Ineinander religiöser und politischer Fragestellungen reflexiv zu bearbeiten.
Zum einen: Bildung und Religion besitzen auch unter den Bedingungen gesellschaftlicher Pluralität unverzichtbare Bedeutung für einen freiheitlichen, vitalen und tragfähigen Kulturstaat. Wo die Sorge um seine geistigen Grundlagen erlahmt, werden über kurz oder lang kulturelle und soziale Verteilungskämpfe einsetzen.
Zum anderen: Wir tragen auch eine soziale Verantwortung für Werte und Normen, Ethos und Tradition, Sprache und Wissenschaft, Kunst und Kultur oder Religion, die weit über unsere eigene Gegenwart hinausreicht. Die Pflege christlich-abendländischer Tradition lebt mehr oder weniger bewusst aus dem Wissen um diese Verantwortung. Denn wie künftige Generationen leben, denken und handeln werden, wird wiederum davon beeinflusst werden, wie wir heute leben, denken und handeln.
Was können engagierte Christen in den zivilreligiösen Diskurs einspeisen? Welchen Beitrag können sie zur kulturethischen Pflege christlicher Traditionen in einer pluralen Gesellschaft beitragen? Wir werden diese Debatten führen müssen. Und das ist auch gut so.
Es muss dann aber auch von religiösen Fragen die Rede sein. Im aktuellen Sonderheft „Theologie. Warum das Fach Zukunft hat“ der Zeitschrift „Herder Korrespondenz spezial“ plädiert der Bamberger Religionspädagoge Konstantin Lindner dafür, das Aufgabenfeld seiner Disziplin deutlich auszuweiten: „Durch ihren kooperativen Impetus vermag Religionspädagogik zur Visibilität und Attraktivität der Theologie beizutragen.“ Die Themen, die aufgezählt werden, klingen dann allerdings mehr nach einem Ampelparteitag als nach religiöser Bildung: Bildung für nachhaltige Entwicklung, Antisemitismusprävention und politische Bildung, gemeint ist wohl die allgegenwärtige Demokratiepädagogik im „Kampf gegen rechts“.
Ein Missverständnis soll aber nicht aufkommen: Viel war von der kulturethischen Bedeutung des Christentums die Rede gewesen. Diese wird auf Dauer aber nur tragen, wenn auch ein praktiziertes christliches Bekenntnis in unserem Land lebendig bleibt. Es liegt an uns, die „Leerstelle“ der Verfassung durch eine konkrete christliche Praxis zu füllen.
II. AUS DIDAKTISCHER PERSPEKTIVE: WIE KÖNNEN WIR PÄDAGOGISCH ÜBER RELIGION SRECHEN?
1. Wie lässt sich pädagogisch über religiöse Praxis sprechen?
„Gebet“ ist für die Pädagogik zunächst einmal ein fremder Begriff. Als gelebte menschliche Praxis wird pädagogisches Denken und Handeln aber nicht daran vorbeigehen können. Dabei ist Gebet keineswegs allein ein Gegenstand, der allein für eine Fachdidaktik des Religionsunterrichts interessant ist. Es spielt an dieser Stelle zunächst keine Rolle, welche Bedeutung dem Gebet zugesprochen wird. Denn eine eigene Gebetstheorie wird die Pädagogik nicht liefern können. Dies bleibt die Aufgabe anderer Disziplinen.
Der Mensch wird weder vollständig durch seine Natur noch durch die sozialen Einflüsse, denen er ausgesetzt ist, bestimmt. Er vermag nicht einfach zu existieren, sondern muss sich selbst bestimmen. Er muss – innerhalb der Grenzen der Natur und des Rechts – selbst entscheiden, wer er sein will und wie er leben will. Dieser Prozess, in dem der Einzelne sich als mündiges Subjekt selbst entwirft, wird als Bildung bezeichnet. Dabei werden die natürlichen und sozialen Kontingenzen, denen der Mensch unterworfen ist, niemals vollständig durch sein Vernunfstreben aufzuheben sein. Vielmehr bleibt eine durch Handeln zu bewältigende Differenz zwischen Vernunftidealität und Lebenstotalität. Dieses Handeln geschieht stets unter den Bedingungen ungewisser Zukunft und risikoreicher Wahl, bleibt also fehlbar. Theologisch sagen wir: Der Mensch kann sündigen.
Der Mensch ist zum bewussten Handeln fähig, doch muss er dieses erst erlernen. Dabei muss der Mensch nicht allein seine Leistungsformen und Fertigkeiten durch Lernen erwerben, ihm fehlen zugleich von Geburt an festgelegte Antriebe, Werthaltungen oder Welteinstellungen. Der Mensch muss durch Erfahrung und Erziehung erst lernen, seine Umwelt zu werten. Die Frage, wie diese Aufgabe der Bildung und Erziehung unter Anleitung und Führung so gelöst wird, dass dabei der Freiheit des Menschen entsprochen wird, gehört zum Proprium pädagogischen Handelns und kann auch nur in der pädagogischen Teilpraxis entschieden werden: „Bildendes Lernen ist ein Moment zwangloser Nötigung. Vorausgesetzt ist diesem Lernen die Freiheit des Denkens. Alles könnte auch ganz anders gedacht und gemacht werden. Also muß man sich entscheiden. Diese Entscheidung ist nicht vorgegeben, sondern frei. Die Entscheidung muß gesucht werden. Sie muß verantwortet werden – vor dem Anspruch auf Wahrheit, Sittlichkeit und Sinn. Sie kann nur verantwortet werden, wenn der Mensch frei ist, also Möglichkeiten hat. Dieses Problem der Freiheit ist weder soziologisch noch biologisch zu lösen oder abzulösen. Hier bedarf es der pädagogischen Reflexion.“ – so der Bonner Erziehungswissenschaftler Volker Ladenthin.
Selbstverantwortliches Handeln erwächst aus sachlichen oder sittlichen Geltungsansprüchen, die ein Fremder an den Handelnden oder dieser an sich selbst stellt. Vernunft und Sprache befähigen uns, Geltungsansprüche zu artikulieren, einander mitzuteilen und gedanklich nachzuvollziehen. Mit jedem Geltungsanspruch ist eine Aufforderung zum Lernen verbunden, insofern sich der Einzelne ihm gegenüber verhalten muss. Er kann ihn akzeptieren oder verwerfen, auf jeden Fall muss er ihn gedanklich einholen. Denn das Leugnen von Geltungsansprüchen stellt selbst einen Geltungsanspruch dar, würde also zum Selbstwiderspruch führen.
Will der Einzelne die Verbindlichkeit von Geltungsansprüchen selbständig beurteilen, prüfen und bewerten, stellt er seinen Verstand unter die Vernunft und ihr Sollen. Erst dann kann sinn- und wertrationales Handeln entstehen, das über zweckrationales, konventionelles oder bloß legales Verhalten hinausreicht. Das bloße Wissen um Vorgaben ist zunächst eine Verstandesaufgabe. Die Vorgaben aber noch einmal auf ihren Wert, ihren Sinn und ihre Bedeutung zu befragen, ist eine Aufgabe, zu welcher der Mensch erst von der Vernunft freigestellt ist. Dieter-Jürgen Löwisch drückt es in seiner pädagogischen Ethik so aus: „Mit der Vernunft als urteilender, kritisierender und stellungnehmner Vernunft ist zugleich Freiheit gesetzt: Freiheit zu Urteil und Kritik, Freiheit zum Stellungnehmen.“ Blindes Befehlshandeln und Mitläufertum liefern immer wieder Beispiele, dass der Einzelne an dieser ihm aufgegebenen Freiheit auch scheitern kann. Denn als moralisches Subjekt ist der Mensch zwar grundsätzlich zu moralischem Handeln befähigt, er muss aber – wie im Falle aller anderen Fähigkeitsbereiche auch – seine moralische Urteilskompetenz ausbilden, entwickeln und pflegen. Pädagogik ist daher auch mehr als nur ein Anwendungsfall von Ethik. In der Ausbildung moralischer Urteilskompetenz schafft pädagogisches Handeln die Grundlage für Werteinsichten und Wertentscheidungen, ermöglicht es dem Handelnden, zu einer Verantwortungshaltung zu kommen und ein Ethos auszubilden.
Bildung prägt eine aktive Lebensform aus. Wer sich bildet, ahmt nicht bloß Wissen oder Verhalten anderer nach. Bildung ist nur denkbar als Aufforderung zur Selbsttätigkeit. Wer sich bildet, bringt neue Gedanken und Handlungen hervor, er entwickelt Fähigkeiten und wird schöpferisch tätig – und zwar ein Leben lang. Der Mensch ist sowohl in der Lage dazu als auch der Notwendigkeit unterworfen, immer wieder Fähigkeiten zu entwickeln. Vorausgesetzt ist dabei grundlegend die Fähigkeit, Fähigkeiten entwickeln zu können – in der Pädagogik als Bildsamkeit bezeichnet.
Pädagogisches Handeln ist nur unter der Annahme einer unbestimmten Bildsamkeit des Menschen sinnvoll. Diese – so der frühere Wiener Pädagoge Marian Heitger – „artikuliert einen universalen Anspruch, der die gesamte Lebenspraxis des Menschen bestimmt. Bildsamkeit definiert das Subjektsein, sie gilt für jeden, sofern er Mensch ist. Sie stiftet pädagogische ‚Solidarität‘.“ Was hier als Anspruch formuliert wird, muss im Sinne umfassender Persönlichkeitsbildung grundsätzlich auf alle gesellschaftlichen Handlungsfelder und menschlichen Teilpraxen hin ausgerichtet werden. Dabei müssen die Ansprüche der verschiedenen Teilpraxen des Menschen so pädagogisch rekontextualisiert werden, dass sie anschlussfähig werden an die Person des Sichbildenden.
Das Gesagte gilt auch für das religiöse Handeln: „Der Mensch hat die Fähigkeit, Fähigkeiten zu entwickeln, darunter auch solche eines religiösen Denkens und Handelns […]“ – Dietrich Benner meint hier ein weites Verständnis von Religion, das auch konfessionelle Äußerungen einschließt, aber nicht darauf beschränkt ist. Sein endliches Wesen eröffnet dem Menschen einen religiösen Horizont, seine Abhängigkeit und Begrenztheit werden ihm fraglich. Anthropologie, Geschichte und Ethnologie können beschreiben, wie Menschen zu allen Zeiten Fragen gestellt und ausgestaltet haben, die im Horizont von Endlichkeit und ihrer Überschreitung als „religiös“ bezeichnet werden können. Zwar kann aus dem Sein des Menschen kein Sollen abgeleitet werden, doch wird man vorsichtig im Blick auf sein Bedürfnis, nach Sinn zu suchen, von einer anthropologischen Grundausstattung sprechen können.
Diese religiöse Bestimmung des Menschen im weitesten Sinne wird auch beim Bildungsprozess nicht außer Acht gelassen werden dürfen, wenn dieser im umfassenden Sinne als Arbeit des Menschen an der Bestimmung seiner eigenen Existenz verstanden wird. Und umgekehrt wird der Mensch sich ohne Bildung nicht mit religiösen Geltungsansprüchen auseinandersetzen können – unabhängig davon, ob er sich selbst als konfessionell, allgemein religiös oder religionsabstinent bestimmt.
Der Einzelne kann sich so zu den Bedingungen der eigenen religiösen Sozialisation verhalten, entscheidungsfähig werden und seine religiöse Haltung bewusst weiterentwickeln. Religiösem Fundamentalismus oder Fanatismus kann so pädagogisch entgegengewirkt werden.
Pädagogisch kann eine religiös-konfessionelle Praxis nicht zwingend vorausgesetzt werden. Glauben ist ein Akt individueller Freiheit. Dies ist als pädagogischer Ausgangspunkt ernst zu nehmen. Doch wird der Einzelne sich selbst, die anderen und die Welt um sich herum nur dann angemessen und differenziert wahrnehmen können, wenn er religiöse Fragen dabei nicht ausklammert – denn Religion ist Teil unserer Wirklichkeit und gehört zum menschlichen Leben dazu, gleich ob sich der Einzelne selbst als religiös empfindet oder nicht.
Je mehr Religion allerdings aus dem gelebten Alltag schwindet, desto weniger wird es der Schule möglich sein, an den religiösen Gehalt der Kultur anzuknüpfen, den die Lernenden in ihrem Lebensumfeld vorfinden. Wo religiöse Erfahrungen fehlen oder auch eine religiös indifferente Lernumwelt die Begegnung mit gelebter Religion verhindert, müssen solche Grundlagen pädagogisch erst angebahnt werden. Im Rahmen des allgemeinen Bildungsauftrags ist es dabei zunächst nicht das Ziel, wie Benner betont, „Heranwachsende in den Vollzug des Glaubens einzuführen und mit ihnen religiöse Praktiken einer konkreten Religion einzuüben“. Vielmehr geht es erst einmal darum, pädagogisch jene grundlegenden Vorstellungen und Kenntnisse zu legen, an die Unterricht dann anknüpfen kann. Dabei sollte didaktisch-methodisch der Eindruck von Künstlichkeit, Banalisierung oder Verzerrung vermieden werden. Je mehr Schule gegenwärtig vom Lern- zum Lebensraum wird, umso wichtiger wird es werden, dass Heranwachsende im Schulleben religiös bedeutsame Lebensformen finden können, die ihrem Streben nach religiöser Selbstbestimmung gerecht werden.
2. Wie lässt sich die Auseinandersetzung mit religiösen Fragen anbahnen?
Nicht selten werden Erfahrungen, an welche der Unterricht bei der Beschäftigung mit Religion anknüpfen kann, über die zeitstrukturierende Funktion religiöser Ausdrucksformen angebahnt. Eine wichtige Rolle spielen hierbei Rituale.
Rituale sind kulturelle Handlungen, die für den Einzelnen und seine Identitätsbildung unverzichtbare Bedeutung erlangen können. Anders als Regeln, die für einen angemessenen sozialen Umgang wichtig sind, lassen sich Rituale nicht einfach zweckrational deuten. Rituale wollen vielmehr Freiräume eröffnen. Es geht beispielsweise um die Möglichkeit für gemeinsame Prozesse der Sinnsuche, der Verständigung, der Konfliktlösung oder der gemeinschaftlichen Selbstvergewisserung.
Im Schulalltag können Ritualisierungen etwa helfen, einen bewussten Einstieg in den Tag oder die Woche zu ermöglichen, Übergänge im Schulalltag zu gestalten oder Phasen der Besinnung, der Muße und der Stille offenzuhalten. Dies kann beispielsweise ein regelmäßiger Wochenimpuls sein, der am Vormittag den Schulalltag unterbricht und zu dem die gesamte Schulgemeinde zusammenkommt. Dies kann das Abschiedsritual nach Übergabe der Abschlusszeugnisse sein. Dies kann die Entspannungsübung vor Beginn einer Klassenarbeit oder Abschlussklausur sein. Dies kann die bewusste Begrüßung am Morgen sein, das gemeinsame Begehen von besonderen Anlässen in der Klassengemeinschaft oder der musikalische Gruß an ein Geburtstagskind. Dies kann der Einsatz einer Klangschale sein, deren Ton zum Ruhigwerden einlädt.
Wenn Schule gehaltvolle Bildungserfahrungen vermitteln will, darf sie aber nicht bei bloßen Ritualisierungen im Schulalltag stehen bleiben. Ritualisierungen schränken den Handlungs- und Interpretationsspielraum der Beteiligten ein, bieten Orientierung und Sicherheit, sie entlasten und schaffen Freiräume, ermöglichen gemeinsame Erfahrungen und helfen, Krisensituationen zu bewältigen. Das ist eine Menge und unterstützt das gemeinsame Lehren und Lernen auf vielfältige Weise.
Doch erst die Frage nach ihrer Bedeutung macht aus einer bloßen Ritualisierung ein Ritual, eine Inszenierung, in der sich eine für das Subjekt oder die Gemeinschaft bedeutsame Erfahrung symbolisch vermittelt. Daher bleibt es für den bildenden Umgang wichtig, nach der tiefergehenden Bedeutung bestimmter Ritualisierungen zu fragen. Wenn dies pädagogisch gelingt, können Rituale elementare Grunderfahrungen wecken, die für ein Verständnis religiöser Vollzüge oder Gebetsformen fruchtbar gemacht werden können. Organisierte Bildungs- und Erziehungsprozesse in Schule oder Kindertageseinrichtungen können viel dazu beitragen, ein solches Verständnis zu pflegen, gerade dann wenn Heranwachsende nicht mehr aktiv in einer Kirche oder Glaubensgemeinschaft verwurzelt sind. Angehende Pädagogen werden auch nur dann religiöse Lern- und Bildungsprozesse bei den ihnen anvertrauten Kindern und Jugendlichen eröffnen und begleiten können, wenn sie selbst ein hinreichendes Verständnis hierfür entwickelt und entsprechende Erfahrungen gemacht haben.
Ein Verständnis religiöser Vollzüge werden Schüler nur dann gewinnen können, wenn die Beschäftigung mit diesen in der Schule nicht auf deren außerreligiöse Funktionen begrenzt wird, beispielsweise psychologische, politische, gesellschaftliche oder religionskritische Aspekte, die mit Religion zusammenhängen. Ein gereiftes Verständnis für religiöse Phänomene werden Heranwachsende nur dann entwickeln können, wenn sie diese auch in ihrer spezifischen Eigenart kennenlernen und der Bildungsgehalt von Religion nicht auf ein kulturethisches Verständnis reduziert wird, bei dem genuin religiöse oder theologische Fragen ausgespart bleiben. Schüler werden nur dann für religiöse Fragen und Phänomene aufgeschlossen werden können, wenn sie zumindest ansatzweise auch mit gelebter Religion, mit den dahinterstehenden Überzeugungen und Gewissheiten in Kontakt kommen.
Dies bedarf im Unterricht der methodischen und medialen Vermittlung, beispielsweise über biographische, liturgische, literarische oder anderweitige Quellen, durch die Beschäftigung mit geistlicher Musik, in Form von Texten, Interviews oder Filmmaterial, durch Kirchenraumpädagogik und Kirchenraumexkursionen, Befragungen oder Hospitationen. Und dies geschieht durch Schulgottesdienste oder durch die Kooperation mit der Kirchengemeinde vor Ort. Peter B. Steiner, Direktor des Diözesanmuseums Freising, hat jüngst in der Wochenzeitschrift „Christ in der Gegenwart“ aufgezeigt, wie im Rahmen der Kirchenraumpädagogik Zugänge religiöser, künstlerischer, musischer, historischer, altsprachlicher, selbst mathematischer Bildung multiperspektivisch miteinander verbunden werden können.
Heranwachsende sollten pädgogisch unterstützt werden, eigene religiöse Fragen zu finden, angemessene Antworten zu formulieren und über religiöse Dinge zu sprechen. Nur dann werden sie später auch selbst als Eltern, ihre eigenen Kinder dabei begleiten können, sich mit Sinn-, Wert- und religiösen Fragen bewusst auseinander zu setzen.
3. Zum Abschluss: Wie sollte mit religiöser Pluralität umgegangen werden?
„Die Schulglocke beendet die Pause. Sophia, griechisch-orthodox, setzt sich neben ihre muslimische Freundin Mariam und schlägt das Mathebuch auf. Zur gleichen Zeit kommt der Umzugswagen vor dem kleinen Fachwerkhaus im Ortskern zum Stehen – direkt neben dem katholischen Pfarrer zieht eine jüdische Familie aus Sankt Petersburg ein. Die Neuankömmlinge bringen ihre Sprache, ihre Kultur und ihre Traditionen mit. Und auch die Religionen wandern mit den Menschen.“ –
Sie haben sicherlich schnell gemerkt, dass die geschilderte Situation konstruiert ist: entnommen der Ausschreibung zum sechsten, von der „Herbert Quandt-Stiftung“ ausgelobten Schulwettbewerb „Trialog der Kulturen“.
In der modernen Gesellschaft wird bei der pädagogischen Beschäftigung mit religiösen Fragen die religiös-plurale Gegenwartssituation aufgegriffen werden müssen. Wenn auch der religiöse Pluralismus nicht in jedem Kontext in gleicher Weise unmittelbar spürbar ist, so tragen nicht zuletzt die Medien dazu bei, dass die Wahrnehmung religiöser Phänomene insgesamt entgrenzter, globaler und vielfältiger, zugleich aber auch selektiver, plakativer und virtueller geworden ist.
Doch bleibt es notwendig, interreligiöses Lernen nicht allein als bloße Reaktion, sondern als eine genuin pädagogische Antwort auf gesellschaftliche Pluralisierungsprozesse zu begreifen. Im ersten Fall wäre interreligiöses Lernen lediglich die bloße Affirmation gesellschaftlicher Bedingungen oder die Lösung bestimmter Probleme, die sich daraus ergeben. Dem Anspruch auf Bildung wird interreligiöses Lernen hingegen erst dann gerecht, wenn es als kritisch-reflexive Aufarbeitung religiöser Phänomene begriffen wird und somit als subjektive Anpassungsleistung, die letztlich pädagogisch nicht determinierbar ist und die auch einen anderen Ausgang nehmen kann als den, den der Lehrende vorgesehen hat.
Wenn interreligiöses Lernen diesem Anspruch gerecht werden will, wird es nicht allein um alltagstaugliche Copingstrategien gehen, also um die Vermeidung kultureller Fauxpas bei der Begegnung mit Menschen, die einer anderen Kultur oder Religion angehören. Gefragt ist vielmehr der Aufbau differenzierter, situationsübergreifender und nachhaltiger Denkstrukturen, die es dem Einzelnen ermöglichen, eine Urteils- und Entscheidungskompetenz gegenüber religiösen Geltungsansprüchen zu entwickeln und auch mit fremdartigen religiösen Phänomenen verantwortlich umzugehen.
Auch eine konfessionelle Religionspädagogik wird den didaktischen Umgang mit fremden Religionen suchen müssen, wenn einerseits der nicht mehr durch konfessionelle Homogenität bestimmte Lebenskontext der Heranwachsenden aufgegriffen werden soll und diese andererseits mit der religionstheologischen Wahrheitsfrage nicht alleingelassen werden sollen. Eine selbstbestimmte und tragfähige religiöse Identität wird der Einzelne nur gewinnen können, wenn er fähig ist, die eigene religiöse Tradition in Beziehung zu setzen zur faktisch vorgefundenen Pluralität religiöser Positionen.
Urteilskraft und Selbstverantwortung entwickeln sich in Auseinandersetzung mit bestimmten Bildungsinhalten. Interreligiöses Lernen entbindet religiöse Kompetenzen. Aber ohne Zentrierung auf das sich bildende Subjekt wird die existentielle Dimension interreligiöser Lernprozesse verfehlt werden. Gelingende interreligiöse Bildungsprozesse bleiben auf zwei Voraussetzungen angewiesen: Zum einen werden Schüler ein Verständnis für religiöse Phänomene und ein mündiges, gereiftes Urteil im Hinblick auf religiöse Fragestellungen nur dann entwickeln, wenn der Bildungsgehalt von Religion nicht allein auf deren kulturell-politische Funktionen reduziert wird. Kategoriale Einsichten in religiöse Fragestellungen werden Heranwachsende nur dann erreichen können, wenn sie auch mit gelebter Religion, mit religiösen Überzeugungen und Gewissheiten in Kontakt kommen. Die moralische Qualität interreligiöser Bildungsprozesse wird gerade dort verfehlt werden, wo der religiöse Bildungsprozess moralerzieherisch oder sogar sozialtechnologisch funktionalisiert wird. Auch ethisch wird dies auf Dauer nicht folgenlos bleiben: Denn eine Ethosbildung, die bewusst von allen Formen gelebter Religion und Sittlichkeit abstrahieren wollte, würde auf Dauer an motivationsbildender Kraft verlieren.
Zum anderen wird sich ein Verständnis für das Fremde nur vom Standpunkt des Eigenen her entwickeln können, in der wechselseitigen Verschränkung von Selbst- und Fremdverstehen. Der Berliner Erziehungswissenschaftler Dietrich Benner hat eine interessante bildungstheoretisch begründete Parallele zum Sprachenerwerb gezogen. So wie Kinder erst im Ausgang von einer Muttersprache andere Fremdsprachen erlernen können, werden fremde Religionen erst verständlich, wenn der Einzelne sich einen relativen eigenen Standpunkt erarbeitet hat. Dieser muss nicht in jedem Fall die eigene Religion sein, zumal ein bestimmtes konfessionelles Bekenntnis pädagogisch gar nicht allgemein vorausgesetzt werden kann, doch wird interreligiöses Lernen notwendigerweise einen Schwerpunkt setzen müssen, in der Regel bei jener Religion, die in der kulturellen Lebenswelt der Lernenden am stärksten verankert ist. Es ist nicht möglich, in alle Religionen pluriform, gleichgewichtig und gleichzeitig einzuführen.
Auch würde der interreligiös angezielte Austausch letztlich zum Erliegen kommen. Denn interreligiöser Austausch setzt voraus, etwas einbringen zu können. Die Andersartigkeit des anderen zeichnet sich erst vor dem Hintergrund des Eigenen ab – und erst dann kann ich auch ein begründetes Urteil fällen. Wo alles gleich ausfällt, kann nicht mehr argumentativ gestritten werden.
Zu bedenken ist aber auch: Lernarrangements helfen nicht allein Differenzen überwinden, sie können mitunter auch die Wahrnehmung religiöser oder kultureller Fremdheit erst erzeugen. Erfahrungen von Fremdheit und Irritation können niemals vollständig überwunden, sondern nur reflexiv bearbeitet werden. Toleranz ist nicht pädagogisch-intentional zu erzeugen, sie wird aber leichter fallen, wenn religiöse Fragestellungen im pädagogischen Zusammenleben von Bedeutung sind.
Die staatliche Neutralität in religiösen Dingen meint die Diskriminierungsfreiheit religiös-weltanschaulicher Überzeugungen, nicht deren Neutralisierung oder Nivellierung zu einer staatlich betriebenen, einheitlichen Zivilreligion. Eine vermeintlich neutrale Werterziehung kann gerade durch die Verleugnung weltanschaulicher Horizonte selbst zur Weltanschauung werden.
Angesichts zunehmender religiöser Vielfalt, auch in konfessionellen Einrichtungen, wird es bei alldem heute darauf ankommen, unterschiedliche kulturelle und religiöse Perspektiven einzubinden, nach den Unterschieden und Gemeinsamkeiten der einzelnen Religionen zu fragen und zu überlegen, wie ein gemeinschaftliches Zusammenleben in gegenseitiger Toleranz gelingen kann. Doch wird interreligiöses Lernen ohne kognitiv-intellektuellen Anspruch – und das heißt: ohne tatsächliche Wahrnehmung der anderen Religionen – vordergründig bleiben.
Religiöse Fragen spielen in zahlreiche Teilpraxen des Menschen hinein, seien es beispielsweise Politik und Kultur, Ethik oder Psychologie. Ein Verständnis religiöser Vollzüge werden Heranwachsende nur dann gewinnen können, wenn die Beschäftigung mit der religiösen Teilpraxis des Menschen nicht auf deren außerreligiöse Funktionen begrenzt wird, beispielsweise psychologische, politische, gesellschaftliche oder religionskritische Aspekte, die mit Religion zusammenhängen. Ein gereiftes Verständnis für religiöse Phänomene werden Heranwachsende nur dann entwickeln können, wenn sie diese auch in ihrer spezifischen Eigenart kennenlernen und der Bildungsgehalt von Religion nicht auf ein kulturethisches Verständnis reduziert wird, bei dem genuin religiöse oder theologische Fragen ausgespart bleiben. Wichtig bleibt es, Formen zu entwickeln, die es ermöglichen, den spezifisch religionspädagogischen Auftrag in den allgemeinen Bildungsauftrag der Schule einzubinden – mit dem gemeinsamen Ziel, die Freiheit der Heranwachsenden in religiösen Dingen und ihre selbstbestimmte Urteils- und Entscheidungsfähigkeit in religiösen Fragen zu fördern.
Lehren und Lernen bleiben stets personenbezogen. Dabei lernen Heranwachsende nicht allein Sachverhalte, sondern zugleich die Bedeutung, die der Pädagoge oder die Pädagogin einer Sache gibt. Dies gilt zumal bei religionsbezogenen Themen, wo der Ebene der Sinngebung gegenstandskonstituierende Bedeutung zukommt. Kinder oder Jugendliche wollen in besonderer Weise wissen, wie die Inhalte vom Pädagogen oder der Pädagogin selbst gesehen werden und durch eigene Erfahrungen gestützt sind.
Ein neutrales „Lehren über Religion“ (teaching about) wird sich nur künstlich durchhalten lassen. Vielmehr wird von einem fließenden Übergang auszugehen sein, bei dem die Beschäftigung mit religiösen Wissensinhalten zum „Lehren von der Religion her“ wird (teaching from), also zu einem religiös bestimmten Identifikations- oder Imitationslernen. Der Pädagoge wird es gar nicht vermeiden können, selbst zum Modell zu werden. Selbst dann, wenn er gar nicht eigens Position beziehen wollte, nimmt er unweigerlich Stellung, offenbart er seine subjektive Haltung gegenüber Religion. Leben Sie Ihren Glauben?, Gehen Sie jeden Sonntag zur Kirche?, Was halten Sie persönlich an der Bibel für wahr?, Was halten Sie vom Islam? … – Selbst wenn solche Fragen mit dem Hinweis „Das gehört jetzt nicht hierher“ beiseite geschoben werden sollten, würde sich damit eine bestimmte Haltung im Reden über Religion kundtun. Auch außerhalb konfessioneller Zusammenhänge werden religionsbezogene Bildungsprozesse partiell immer „Lehre in einer bestimmten religiösen Haltung“ (teaching in) sein.
4. Statt eines Schlussworts …
Fast kein Fach, das nicht schon von irgendeiner Lobbygruppe gefordert worden wäre: Klimakunde und Konsumerziehung, Datenschutzunterricht oder Ernährung. Selbst das Unterrichtsfach Glück gibt es bereits. Über eine Frage aber wird erstaunlich wenig diskutiert: Warum ist es überhaupt sinnvoll, sich zu bilden?
Wenn wir auf diese Frage keine Antwort mehr wissen, werden Motivation zur Bildung und Freude am Lernen nur schwer zu wecken sein. Bildung würde dann auch kaum als Genuss und Bereicherung des eigenen Lebens erfahren werden können. Bildung, die mehr sein will als Anpassung an äußere Erwartungen, braucht ein Fundament an Sinn, das innerpädagogisch allein nicht gelegt werden kann. Um einen solchen Lebenssinn muss sich jeder selbständig mühen. Aber wir können den Einzelnen, das Kind, den Schüler, den Heranwachsenden, dabei pädagogisch begleiten.
Für uns als Christen ist Bildung entscheidend mit einem Auftrag zum Zeugnis verbunden. Die Kirche gibt in Wort und Tat, in Liturgie und Diakonie lebendiges Zeugnis von Jesu Leben, Sterben und Auferstehen. Kern der christlichen Glaubensgemeinschaft ist die Bezeugung von Jesu Selbsthingabe an den Willen des Vaters. Christliche Existenz ist nicht bloßer Nachvollzug einer vielleicht bedeutungsvollen Erzählung über Wort und Werk Jesu, sondern lebendige Bezeugung dessen, was sein Leben hinterlassen und ausgelöst hat – und bis heute auslöst. Christliche Ethik ist im Kern eine Nachfolgeethik, die sich vom Maßstab Jesu herausfordern lässt, von der Person Jesu, durch die Christen sich existentiell gefordert sehen. An seinem Ruf können sie nicht achtlos vorübergehen können, wenn sie ihre christliche Identität nicht verlieren wollen.
Christliche Ethik ist Antwort auf das Angebot von Gottes unbedingter, zuvorkommender, für den Menschen entschiedener Liebe. Liebe kann genauso wenig erzwungen werden, wie jemand sich Liebe verdienen kann, sie ist und bleibt stets Geschenk. Nur Liebe vermag, sich an den anderen zu binden und dabei doch frei zu bleiben. Die Bibel zeigt uns in vielfältiger Form und mit einem für Christen maßgeblichen Anspruch, wie Glaubende vor uns Gottes Anruf aufgegriffen haben und wie sie diesen Weg der Liebe glaubwürdig und erbindlich gegangen sind. Christliche Ethik als ein Weg der Freiheit und Liebe wird aber stets vielfältig, immer wieder von neuem kreativ und schöpferisch sein. Christliche Nachfolge hat viele Gesichter. Denn wer könnte von sich behaupten, in der Liebe immer schon alles getan und ausgeschöpft zu haben!?
Dies mindert aber nicht den ethischen Anspruch, sondern vertieft ihn. Liebe ist nicht mit halbem Herzen möglich. Sich auf einen anderen Menschen einzulassen und ihm voll und ganz zu vertrauen, verlangt die ganze Persönlichkeit. Dies gilt auch für den Ruf in die Nachfolge Jesu. Nachfolge ist mehr als ein bloßes Fasziniertsein. Christliche Nachfolge gründet in einer persönlichen und bewussten Entscheidung, nicht allein in einem spirituellen Gefühl oder in sentimentaler Schwärmerei. Sie verlangt nach großer Ernsthaftigkeit und gelingt nur, wenn wir in Liebe über uns selbst hinausgehen auf den anderen zu.
Mit Liebe ist keine triebhafte, gedankenlose oder widervernünftige Neigung gemeint, sondern ein beziehungstiftendes Moment, ohne das keine soziale Gemeinschaft entsteht. Liebe verneint dabei nicht den moralisch-politischen Anspruch auf Gerechtigkeit, sondern liegt diesem voraus. Denn die argumentative Forderung nach Gerechtigkeit ist keinesfalls voraussetzungslos, sondern bedarf der Liebe zur Gerechtigkeit, ohne dass diese aber selbst schon gerecht wäre. Sie ist dann auch ein bleibendes Korrektiv: Denn selbst eine parteiische, ungerechte Liebe trennt die Menschen weniger voneinander als eine lieblose, übersteigerte Gerechtigkeit. Das Prinzip der Liebe verbürgt die freiwillige Bindung an den anderen um dessen Selbstbestimmung willen. Eine solche Liebe zur Gerechtigkeit zu wecken und verbindliche Beziehung zu stiften – wider Unverbindlichkeit und Beliebigkeit, bleibt zentraler Bildungsauftrag, auch und gerade für christliche Pädagogen und Erzieher.
Die Diagnose „bildungsarm“ wird schnell ausgesprochen. Heranwachsende können aber auch in anderer Hinsicht „arm“ sein: Gerade Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit zu nehmen, an sittlichen Beanspruchungen lernen und reifen zu können, kann nicht minder Ausdruck einer mangelnden Verantwortung gegenüber der jüngeren Generation sein. Bildung wird nicht über Konvention, Routine oder bloße Wissensaneigung hinausgehen, wenn nicht gleichzeitig die Frage nach dem tieferen Sinn menschlichen Daseins gestellt wird: Was trägt unser Leben? Auf welche Verheißungen können wir unser Leben gründen? Was dürfen wir für uns und unsere Welt erhoffen?
Ob eine Antwort auf diese Fragen gelingt, kann niemand garantieren – hier zeigt sich die Dramatik, mitunter auch tiefe Tragik menschlicher Existenz. Doch können wir pädagogisch dazu beitragen, dass der Einzelne Orte vorfindet, wo die Suche nach Sinn möglich ist, wo Sinn- und Wertfragen gestellt werden dürfen. Bildung hat nicht Funktion, sondern Bedeutung, nicht Zweck, sondern Wert. Dies können Kinder und Heranwachsende dort erfahren, wo religiöse und Sinnfragen pädagogisch nicht ausgeklammert werden. Es ist aus der Mode gekommen: Aber man kann auch von Charakter- und Herzensbildung sprechen. Bildung kann das Leben bereichern und beziehungsreicher machen, auch in religiöser Hinsicht.
Vielleicht ist es gewagt, in einem Kreis wie hier, das letzte Wort Martin Luther zu überlassen. Ich wage es dennoch. Dieser schrieb 1524 „An die Ratsherrn aller Städte deutschen Landes, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen“:
„Nun besteht das Gedeihen einer Stadt nicht allein darin, daß man große Schätze sammelt, feste Mauern, schöne Häuser, viele Kanonen und Harnische herstellt. Vielmehr, wo es viel davon gibt und es kommt in die Hände wahnsinniger Narren, so ist das ein um so schlimmerer und um so größerer Schaden für diese Stadt. Vielmehr das ist einer Stadt Bestes und ihr allerprächtigstes Gedeihen, ihr Wohl und ihre Kraft, daß sie viele gute, gebildete, vernünftige, ehrbare, wohlerzogene Bürger hat, die dann sehr wohl Schätze und alle Güter sammeln können, sie erhalten und recht gebrauchen. […] Nun, solche Männer müssen aus Knaben werden, und solche Frauen müssen aus Mädchen werden. Es ist also darum zu tun, daß man kleine Knaben und Mädchen dazu recht unterrichte und aufziehe.“