Bildungsjahr – so nennt der Kölner Sozialethiker Elmar Nass sein Modell eines allgemeinen Dienstjahres, über das gegenwärtig in der Politik diskutiert wird. Mit diesem Etikett versehen, soll eine Dienstpflicht für junge Menschen die für soziale Berufe notwendige professionelle Kompetenz in die gesellschaftliche Breite tragen und obendrein noch die Demokratiekompetenz fördern. Ja, mehr noch: Ein solches Jahr im Dienst am Gemeinwohl könne auch die Resilienz junger Menschen stärken, nicht den falschen Heilsversprechen autoritärer Despoten in die Hände zu fallen. China wird als warnendes Beispiel genannt. Kleiner geht es offenbar nicht.
„Aus sozialethischer Sicht ist ein solches Bildungsjahr sehr zu begrüßen“, gibt sich Nass in der katholischen Wochenzeitung „Die Tagespost“ vom 18. Januar 2024 überzeugt. Und er nimmt die Kirchen in die Pflicht, sich führend dabei einzubringen. Für die Organisationen, die dabei mitwirken, winkt ein „Gemeinwohl-Siegel“.
Das allgemeine Bildungsjahr soll Wissen, Ethik und Tun verbinden. Das klingt nach Freiheit und Selbstbestimmung – und nicht mehr so nach Zwang wie Wehrpflicht und Dienstjahr. Ob es bei einem solchen Pflichtjahr allerdings tatsächlich um Bildung und Selbstbestimmung ginge, sei hier einmal dahingestellt. Allzu sehr hört sich Bildung in dieser Konzeption doch eher als Mittel zum Zweck an. Was die Politik nicht mehr richtet, was die Gesellschaft an Integration und Selbstregulierung nicht mehr leistet, soll nun durch pädagogische Steuerung erreicht werden. Nur ist es dieses Mal nicht die Schule, die als Reparaturwerkstatt für alles Mögliche herhalten muss, sondern eine neu aufzubauende Bildungs- und Sozialadministration: „Für die konkrete Umsetzung ist ein begleitendes Curriculum nötig, das bestehende Programme entsprechend der Prinzipien und Leitlinien weiterführt. Entsprechendes Bildungspersonal ist dafür essenziell.“
Dieses ließe sich aus den wachsenden Kultur- und Sozialwissenschaften möglicherweise noch gewinnen. Der Öffentliche Dienst würde weiter wachsen. Eine genaue Kostenrechnung, was ein solches „Bildungsjahr“ kosten würde, macht Nass in seinem Beitrag allerdings nicht auf. Ebenso wenig fragt der Autor, ob ein verpflichtendes Dienstjahr die von ihm favorisierten wertkonservativen Ziele überhaupt verfolgen würde. Vermutlich würden die Curricula und ihre praktische Umsetzung schnell in den üblichen links-liberalen Mainstream umkippen.
Die Wehrpflicht war ein bewährtes, traditionelles Modell zur Sicherung der Verteidigungsfähigkeit unseres Landes. Dieses haben wir aufgegeben. Ein Nachfolgemodell zu finden, wird nicht leicht fallen. Vielmehr ist anzunehmen, dass die Debatte in unzählige Vorschläge zerfallen wird. Nass hat diesem Chor an Vorschlägen nur einen weiteren hinzugefügt, der nicht besonders überzeugt.
Ein Zwang zur Bildung um erwünschter staatlicher Ziele willen wäre das Gegenteil, was Humboldt, sofern man sich an ihn noch erinnern will, einmal die Freisetzung der Einzelnen zur Selbsttätigkeit nannte. Wohlwissend, dass der Staat letztlich niemanden „bebilden“ kann. Freiwilligendienste mit attraktiven Rahmenbedingungen sind das eine – und als Orientierungsjahr von vielen jungen Menschen geschätzt. Ein verpflichtendes Bildungsjahr unter staatlicher Kontrollbürokratie aber etwas anderes. Für die erhofften Bildungseffekte dürfte dies nicht unerheblich sein.
Und damit sind wir beim Menschenbild und Staatsverständnis, das hinter dem vorgeschlagenen Bildungsjahr sichtbar wird: Ein verpflichtendes Dienstjahr, ob zur Landesverteidigung, im Sozialsektor oder als Bildungsjahr verkleidet, bleibt ein gravierender Eingriff in die Grundrechte. Doch diesem gegenüber bleibt der von Nass vorgelegte Vorschlag stumm. Dabei sollten Grundrechtskonflikte und Freiheitseingriffe ein genuines Thema sozialethischer Reflexion sein. Gravierende Grundrechtseingriffe sind in höchstem Maße begründungspflichtig. Im Falle der Wehrpflicht ist dies möglich, wenn es um den Erhalt des Gemeinwesens und die Verteidigung der nationalen Sicherheit geht, und damit um die Verteidigung unserer Grundrechts- und Freiheitsordnung. Hier stoßen grundrechtsrelevante Güter aufeinander.
Dies ist aber anders, wenn Grundrechtseingriffe mit dem Anliegen staatlicher Steuerung von erwünschten politischen oder gesellschaftlichen Einstellungen begründet wird. Der Grundrechtsträger ist der Souverän und muss es bleiben. Es widerspricht dem liberalen Rechts- und Verfassungsstaat, den Einzelnen zum Mittel staatlicher Zwecke zu machen. Vielmehr muss der Staat Eingriffe in den grundrechtlich geschützten Kernbereich der Persönlichkeit sorgfältig begründen. Der Vorschlag, den Nass vorgelegt hat, leistet dies gerade nicht. Indem dieser über die gravierenden Grundrechtseingriffe gar kein Wort verliert, wird er weder dem Personalitäts- noch Gemeinwohlprinzip katholischer Soziallehre gerecht.
Die noch nicht allzu lang zurückliegende Coronapolitik hat uns gezeigt, welche – bis heute fortwirkende – Polarisierung droht, wenn Grundrechtseingriffe nicht sorgfältig abgewogen, begründet und beständig auf ihre Verhältnismäßigkeit hin geprüft werden.