Vortrag: Situation, Kompromiss, Gewissen – und rote Linien

Wissenschaftlicher Abend

(Leipziger Burschenschaft Alemannia zu Bamberg, Bamberg, 1. Dezember 2023)

Freiheit verwirklicht sich im bleibenden Spannungsfeld zwischen der Achtung vor dem Einzelnen und den Interessen der Gemeinschaft. Die ethische Tradition kennt die Unterscheidung zwischen dem guten Willen und der richtigen Tat. Angesichts begrenzter Ressourcen ist das moralische Maximum keineswegs schon das politisch Richtige. Unter der Bedingung stets begrenzter Ressourcen bleibt politisch und ethisch immer wieder zu unterscheiden zwischen grundsätzlichem „Wohl-Wollen“ und abwägendem „Wohl-Tun“. Individual- und Gemeinwohlbelange, kurz- und langfristige Folgen, der mögliche Nutzen und die möglichen Übel verschiedener Handlungsoptionen sind bei einer sorgfältigen Güterabwägung differenziert wahrzunehmen und zu berücksichtigen.

Eine Verantwortungsethik, der dies gelingen soll, wird nicht ohne die Anwendung ethischer Vorzugsregeln auskommen – ein sozialethisches Methodenwissen, das allerdings nicht mehr selbstverständlich ist, sondern zunehmend strittig wird, wie Katharina Klöcker im Zusammenhang einer Studie zum Vergleich von katholischer und evangelischer Migrationsethik feststellte. [1]

In den Jahren nach den ersten PISA-Studien wurde Bildung zum Wichtigsten erklärt – und alles sollte sich dem Thema Bildungsgerechtigkeit unterordnen. In der Coronakrise war dann Gesundheit der allerwichtigste Wert – und alles sollte dem Gesundheitsschutz untergeordnet werden. Und morgen …!? In einer politischen Debatte, die für einzelne Themen immer gleich einen absoluten Vorrang postuliert, bleibt kein Spielraum für differenzierte Abwägungsprozesse. Wo zunehmend moralisierend diskutiert wird (Haltungs- oder Agendawissenschaft, Haltungsjournalismus, Haltung zeigen gegen …), da muss man keine ethischen Vorzugsregeln anwenden: Da gibt es nur noch Schwarz und Weiß, absolut Gut und absolut Böse. Die Folgen sind deutlich spürbar: Die Fähigkeit zur differenzierten ethischen Güter- und Übelabwägung kommt abhanden.

Vorzugsregeln verdanken sich der Erkenntnis, dass verantwortliche Urteile einer sorgfältigen Abwägung und differenzierten Begründung bedürfen. Sie verlieren allerdings dort an Bedeutung, wo es vorrangig darum geht, Haltung zu zeigen, statt hart, aber fair über kontroverse Positionen zu streiten und um das bessere Argument zu ringen. Eine affektgeleitete Politik, die sich der vergleichenden Beurteilung und rationalen Abwägung verweigert, verspielt auf Dauer an Problemlösefähigkeit, Vertrauen und Überzeugungskraft. Im Folgenden soll diskutiert werden, welche Rolle dabei die politische Tugend der Kompromissfähigkeit spielt – unter Rückgriff auf zwei schon ältere, aber wiederzuentdeckende theologische Stimmen, die sich mit der ethischen Seite des Kompromisses beschäftigt haben.

Die Überlegungen folgen dabei der Gedankenkette Situation – Kompromiss – Gewissen – rote Linie.

1. Die Situation

Der Mensch ist ein geschichtliches Wesen, seine Existenz bleibt sozialem Wandel unterworfen. Im politischen Raum entstehen immer wieder neue, wechselnde Situationen, die bewältigt werden müssen. Wir erleben dies gegenwärtig sehr stark, wenn von Zeiten multipler Krisen oder auch multipler globaler Krisen die Rede ist.

Die Grundaufgabe der politischen Teilpraxis ist es, das Zusammenleben zu erhalten und zu gestalten. Die politischen Institutionen sollten dabei dazu beitragen, den Wandel im Zusammenleben gestaltbar und berechenbar zu machen. Doch behält politisches Handeln auch bei funktionierenden Institutionen unabweisbar einen deutlich situativen Charakter. Prinzipien, also ethische Auslegungsregeln, und Normen geben dabei Orientierung und entlasten von notwendigen und immer wiederkehrenden Alltagsentscheidungen zugunsten von Entscheidungen bei gravierenden oder neuartigen Konfliktlagen. Eine Norm kann als sittliches Vorzugsurteil verstanden werden, bei dem Werte unter konkreten Handlungsbedingungen abgewogen werden. Die politische Urteilsbildung erfolgt unter Abwägung längerfristig wirkender Wertpräferenzen, der Folgen der jeweiligen Handlungsalternativen für die Zukunft und der gegebenen empirischen Sachverhalte. Was in einer ganz konkreten Situation das Gute und das Bessere ist, lässt sich nicht aus Prinzipien und Normen ableiten; das muss durch Analyse der Situation und ethische Güterabwägung mit Hilfe der Prinzipien und Normen beurteilt werden.

Mit der Situation kommt die pragmatische und strategische Seite politischen Handelns in den Blick, die der Politikdidaktiker Bernhard Sutor so beschreibt: „Politik heißt […] erträgliche Arrangements finden, Interessen miteinander vermitteln, Kompromisse einzufädeln, [sic!] Verbündete finden, die richtigen Personen als Mitarbeiter wählen, den geeigneten Zeitpunkt wittern, Opposition einkalkulieren, Zustimmung erringen, Mehrheiten zusammenhalten, öffentliche Meinung beeinflussen.“ [2]

Dabei bleiben für politische Situationen, wenn diese einmal gemeinschaftlich als solche gewertet worden sind, konfligierende Problemdefinitionen, Zielsetzungen und Handlungsoptionen bestimmend. Einfach „durchzuregieren“, bleibt eine naive und gefährliche Vorstellung. Es braucht verlässliche Regeln, die miteinander konkurrierenden Interessen und Positionen zu verhandeln sowie in Aushandlung und Abstimmung zu einem Ausgleich zu bringen.

Für politische Zusammenarbeit ist nicht eine Einheitlichkeit in der politischen Meinung notwendig, die auch nur um den Preis der Freiheit möglich wäre, wohl aber eine Einigung im Wollen, politische Lösungen überhaupt anzustreben und gemeinsam auszuhandeln. Politik lebt davon, dass akzeptiert wird, zwischen einem legitimen Interessendissens auf der einen und einem notwendigen Regelkonsens auf der anderen Seite zu unterscheiden. Eine politische Tugend, die für die Wahrnehmung politischer Verantwortung unverzichtbar bleibt, ist dabei Kompromissfähigkeit.

2. Der Kompromiss

Der politische Kompromiss hat nicht immer den besten Ruf. Er gilt mitunter als Kuhhandel, Verrat, Selbstpreisgabe oder faules Fallobst. Ja, es kann faule oder falsche Kompromisse geben, und falsche „Kompromisslerei“ aus feiger Bequemlichkeit. Tragfähige politische Kompromisse hingegen setzen ethische Anstrengung voraus.

Der Kompromiss kann verstanden werden als eine Form handlungsorientierter Konfliktbearbeitung, bei der widersprüchliche Interessen, Standpunkte oder Positionen konstruktiv bearbeitet und zu einem Ausgleich gebracht werden sollen. Fortbestehende Differenzen werden nicht geleugnet. Doch eröffnet ein Kompromiss den beteiligten Akteuren neue Entscheidungs- und Handlungsspielräume, ohne dass sie bereit sein müssen, die eigene Identität aufzugeben. Der Kompromiss setzt einen Grundkonsens im gesellschaftlichen Ethos voraus: Der Kompromiss respektiert die verschiedenen politischen und weltanschaulichen Überzeugungen, achtet aber zugleich handlungsbezogene Entscheidungen, die auf Basis dessen gefällt werden, was aktuell und unter Beachtung der bestmöglichen Sorgfalt einsehbar ist. Das heißt dann auch: Derartige Entscheidungen sind geschichtlich überholbar und müssen immer wieder neu erarbeitet und verantwortet werden. Die Verfassung gibt hierfür den notwendigen Rahmen, hebt aber nicht die immer wieder neu notwendige Anstrengung zum Kompromiss auf.

Der Kompromiss ist eine bürgerlich-politische Tugend, die innerhalb der pluralen Gesellschaft ein Analogon zu den Entscheidungsmechanismen politischer Partizipation darstellt und zugleich ein Korrektiv zum Mehrheitsprinzip der Demokratie bildet.

Innerhalb der theologischen Ethik ist bei diesem Thema weiterhin jene Abhandlung wegweisend, die Helmut Thielicke dem Kompromiss in seiner „Theologischen Ethik“ gewidmet hat. [3] Für ihn gründet der Kompromiss in der Vorläufigkeit irdischer Existenz und einer zu Ende gehenden, der Vollendung entgegengehenden Welt. Die „Reinheit irdischer Existenz“ stoße unter diesen Vorzeichen immer an die Grenze der zur Verfügung stehenden Mittel und ihrer Eigengesetzlichkeit und mache daher Zugeständnisse an die realen Verhältnisse unumgänglich. Für Thielicke ist daher jede realistische Ethik immer schon eine „Ethik des Kompromisses“. Wie im Fall ethischer Vorzugsregeln liegt ein Grund hierfür in den stets begrenzten Ressourcen, mit denen jede Ethik rechnen muss.

Auch der Christ müsse „coram deo“ den Zwiespalt aushalten, der sich aus dem De-facto-Kompromiss im menschlichen Leben und den radikalen Forderungen Gottes ergebe. Diesen Zwiespalt auflösen zu wollen, führe in schwärmerischen Radikalismus oder menschliche Tragik. Wenn es diesen Zwiespalt auszuhalten gilt, sagt das aber auch: Das Wissen um die Vorläufigkeit der Welt und die Notwendigkeit des Kompromisses darf nicht in dem Sinne zu einer Tugend gemacht werden, dass von vornherein ein reduziertes Sollen in Kauf genommen wird. In der moralischen Alltagssprache klingt das dann oft so: Letztlich sind wir alle korrumpiert. Und nachts sind eben alle Katzen grau.

Thielickes Position ist theologisch nicht unwidersprochen geblieben. An dieser Stelle nur ein Beispiel: So hat Gerhard Lohfink [4] seinem Hamburger Kollegen vorgeworfen, den Kompromiss pervertiert zu haben, indem er ihn generalisiert und auf den intrapersonalen Raum ausgeweitet habe – mit der Folge, dass der Einzelne nach Thielicke praktisch gar nicht mehr anders leben könne, als beständig schlechte Kompromisse einzugehen. Lohfink hingegen will den Kompromiss strikt auf den Bereich pluralistischer Sozialgebilde beschränkt sehen und ansonsten von Güterabwägung sprechen.

In der katholischen Theologie hat sich zeitgleich wie Thielicke Johannes Messner mit dem Kompromiss beschäftigt. In seinem Standardwerk zum Naturrecht bezeichnet er den Kompromiss als Prüfstein der Demokratie. [5]

Auch für Messner zeigt sich der demokratische Konsens weniger an der Zustimmung aller an einer Entscheidung beteiligten Akteure, sondern vielmehr in einer kompromissbereiten Einigung, bei der die unterschiedlichen Meinungen weiterhin bestehen bleiben. Demokratische Mehrheiten können wechseln; die Zustimmung der unterlegenen Seite bedarf des Vertrauens, in einer anderen Streitfrage auch einmal der abstimmungsstärkeren Seite angehören zu können. Der Kompromiss, so Messner, fuße auf dem Vertrauen der einzelnen kollektiven Akteure, die an ihm beteiligt sind, in ihre eigene Gestaltungsmacht, aber genauso in die Wirkmacht der Vernunft. Beides wird beschädigt, wenn Etikettierung, Moralisierung oder Emotionalisierung das Argumentieren ersetzen.

Messner unterscheidet zwischen „echten“ und „taktischen“ Kompromissen. Der echte Kompromiss gründe auf einem möglichst weitgehenden Konsens, dem alle Beteiligten vor ihrem Gewissen zustimmen können. Für den politischen Prozess bedeutet dies, dass solche Kompromisse auch von der Opposition mitgetragen werden und auch bei geänderten Mehrheitsverhältnissen Bestand haben können. Häufiger hingegen ist der taktische Kompromiss. Politische Akteure retteten sich damit über Zeiträume, in denen die „demokratische Maschinerie“, wie Messner formuliert, ins Knirschen gerät, oder man erheischt damit die Zustimmung anderer Parteien, auf die man zwingend angewiesen ist.

Für Messner ist eine solche „Politik des kleineren Übels“ grundsätzlich berechtigt, aber sie dürfe nicht zum Normalfall der Politik werden. Dann drohten zwei Gefahren: Entweder verliert eine Partei auf Dauer ihre Gemeinwohlorientierung und orientiere sich einseitig an ihrer „Parteidogmatik“. Wir könnten fragen, ob wir das möglicherweise gegenwärtig beispielsweise in der Energiepolitik im Allgemeinen und der Kernenergiepolitik im Besonderen erleben.

Oder die ethische Anstrengung, welche der Kompromiss voraussetzt, degeneriere zum dauerhaften Opportunismus. Jedem fallen sicher politische Beispiele ein: Politiker, die – in freier Umkehrung eines Lutherzitats – der Devise folgen: „Hier stehe ich, ich kann auch jederzeit anders.“ Der Kompromiss beinhaltet den Willen, sich bei der politischen Lösungssuche an ethischen Prinzipien und am Allgemeinwohl zu orientieren. Für Opportunisten gilt dies nicht, weshalb Messner sehr deutlich folgert, dass sich die am Gemeinwohl orientierte Mehrheit derartig prinzipienlos agierenden politischen Akteuren verweigern sollte. Taktische Kompromisse seien auf Dauer nur begrenzt tragfähig. Wo diese aus Opportunismus überhandnehmen, untergräbt die Politik das Vertrauen, auf das sie angewiesen ist, und engt über kurz oder lang ihre eigenen Entscheidungs- und Handlungsspielräume gefährlich ein.

Dass Kompromisse ethischer Anstrengung bedürfen, bestätigt auch Thielicke: Die bismarcksche Formel von der Politik als „Kunst des Möglichen“ stellt für ihn sogar ein „Paradigma des Lebens“ [6] überhaupt dar. Ohne Kompromisse könnte der Mensch gar nicht leben und überleben. Allerdings seien Kompromisse, nur weil wir ohne sie gar nicht auskommen könnten, damit keineswegs ethisch neutral. Der Kompromiss ist eben nicht so etwas wie eine mathematische Formel. Vielmehr beinhalte jeder Kompromiss eine Entscheidung, so Thielicke: „Die Sach- und Personwerte, zwischen denen der Kompromiß zu vermitteln hat, können so heterogen sein, daß sachliche Kriterien überhaupt versagen und ausschließlich ein wagender Akt der Entscheidung hilft“ [7].

Kompromissfindung ist ein Prozess kommunikativer Verständigung, der im Ideal als gemeinsamer Lernprozess verstanden werden kann: divergierende Standpunkte werden wahrgenommen, Argumente geprüft, Alternativen abgewogen. Kompromisse fallen in der Regel dort leichter, wo für das zur Verhandlung Stehende ein Äquivalent vorhanden ist. Der Theologe und Soziologe Nikolaus Monzel schrieb Ende der Fünfzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts (im Anschluss an Messners Lehre vom Kompromiss):

„Je weniger eng und notwendig ein Mittel mit einem bestimmten politischen oder gesellschaftlichen Ziel verbunden ist, desto eher läßt sich ein endgültiger Kompromiß in der Wahl der Mittel rechtfertigen. Erscheint jedoch das Streitobjekt als das allein geeignete beziehungsweise als das einzige Mittel, das nicht in sich schon sittlich verwerflich ist, dann wird der so Urteilende und verantwortungsbewußt Handelnde nur einen vorläufigen Kompromiß abschließen; denn auf ein solches Mittel endgültig zu verzichten, hieße ja, das erstrebte Ziel aufzugeben.“ [8]  

Da politische Kompromisse in aller Regel von korporativen Akteuren geschlossen werden, kann sich die geforderte Kompromissbereitschaft nicht allein auf individuelle Tugenden stützen. Politische Organisationen sind nicht über moralische Appelle steuerbar. Es bedarf institutioneller Absicherungen, etwa geregelter Vermittlungsverfahren.

Der Kompromiss ist eine Form des friedlichen Interessenausgleichs unter Verzicht darauf, die eigene Machtüberlegenheit gewaltsam auszuspielen. Klaus Peter Rippe [9] nennt drei Regeln, die für beide Gesprächsseiten gelten müssen, wenn eine faire Aushandlung möglich sein soll: (1.) Der gegnerischen Partei darf die Anerkennung als moralische Position nicht versagt werden, was etwa bei Ad-hominem-Argumenten der Fall ist. (2.) Kompromissbildung darf nicht von vornherein als unmoralisch betrachtet werden. (3.) Empirische Fragen dürfen nicht in moralische Grundsatzfragen übersetzt werden.

Anders gesagt: Der Kompromiss erfordert die Freiheit aller beteiligten Akteure, sich gleichberechtigt und wohlinformiert am Aushandlungsprozess zu beteiligen. Was allerdings nicht bedeutet, wie wir noch sehen werden, alle Positionen tatsächlich gleich zu gewichten. Es bedeutet jedoch, die Gewichtung der vorgetragenen Argumente selbst in die Diskussion einzubeziehen und methodisch kontrolliert zu reflektieren.

Kompromisse werden nicht dadurch erschwert, dass programmatische Unterschiede herausgearbeitet werden, sondern dass eigentliche Gegensätze verschleiert werden und ausgleichsfähige Positionen fehlen – so der Philosoph Max Müller:

„Nicht das Zusammenfließen in die Einheit der spannungslosen Ungeschiedenheit, […] gilt es zu fördern, sondern das Zusammentreten, das Zusammenwirken, d. h. die Kooperation des charakteristisch je anderen gilt es zu erreichen.“ [10]

Und noch ein letzter Gedanke zum Kompromiss: Gefährdet ist die Freiheit zum Ausgleich dort, wo die Anerkennung einer legitimen gesellschaftlichen Pluralität und die Gesprächsfähigkeit der verschiedenen Akteure gerade im Namen einer bestimmten Moral negiert und das Austragen politischer Konflikte auf diese Wei­se verhindert wird. Kompromissfähigkeit bleibt ein Gradmesser für (partei-)po­litische wie (zivil-)gesellschaftliche Gesprächsfähigkeit gleichermaßen.

3. Das Gewissen

„Die Schule hat die Jugend zur Gottesfurcht und Nächstenliebe, Achtung und Duldsamkeit, Rechtlichkeit und Wahrhaftigkeit, zur Liebe zu Volk und Heimat, zum Verantwortungsbewusstsein für Natur und Umwelt, zu sittlicher Haltung und beruflicher Tüchtigkeit und in freier, demokratischer Gesinnung im Geiste der Völkerversöhnung zu erziehen.“ [11]

So heißt es in Artikel 33 der Landesverfassung von Rheinland-Pfalz. Ähnliche Beispiele lassen sich aus anderen Landesverfassungen finden. Diese Formulierung löste in bildungswissenschaftlichen Lehrveranstaltungen immer wieder Verwunderung oder auch vehementen Widerspruch aus. Darf der Staat ein Bekenntnis zu Gott vorschreiben? Soll der Staat nicht vielmehr weltanschaulich neutral sein? Passt ein solcher Anspruch noch zu einer pluralen und offenen Gesellschaft? Und tatsächlich haben sich gerade um den Gottesbezug der Verfassung immer heftige politische Debatten entzündet, beispielsweise im Vorfeld einer geplanten EU-Verfassung oder bei der Landesverfassung in Schleswig-Holstein.

Es geht – wie  auch bei der religiösen Eidesformel – nicht um ein persönliches Credo oder ein bestimmtes konfessionelles Gottesbild, sondern um eine kulturethische Aussage. „Es geht um die Anerkennung einer Verantwortung über die bloße Mehrheitsmeinung oder Opportunität hinaus“ – so der Kulturpolitiker Thomas Sternberg. [12] Es geht um die Gründung der sittlichen Person, die noch einer anderen Instanz, ihrem Gewissen, gegenüber verpflichtet ist. Und es geht um die Rückversicherung gegenüber totalitären Tendenzen – wider eine Selbstüberschätzung des Menschen, wider einen Staat, der sich absolut setzt, wider jede Form des Materialismus, der den Menschen in letzter Konsequenz nur mehr als Funktionär der sozialen Verhältnisse betrachtet, ihm aber letztlich keine höheren geistigen Antriebe, Interessen oder Ziele zuzugestehen vermag. Das Bewusstsein des Subjekts würde auf das Überlebensinteresse des Kollektivs reduziert. Der Gottesbezug hält jene Leerstelle offen, ohne die letztlich auch die Freiheit des Menschen auf der Strecke bliebe. [13] Wir Deutschen haben dies in zwei Diktaturen schmerzlich erfahren.

Die Ideologie der Freiheit darf niemals mächtiger werden als die konkrete Freiheit des Einzelnen. Denn der Mensch muss selbst bestimmen können, wer er sein will und wie er leben will. Dies verleiht ihm eine besondere, nur ihm eigene Würde. Ernst Moritz Arndt, unser burschenschaftlicher Vordenker, wusste in seiner nur fragmentarisch überlieferten Bildungstheorie:

„Man kann in einer gewissen Bedeutung wohl der Beste und doch sehr beschränkt sein. Der Gebildetste zeigt eben darin seines Lebens Regel, daß er nichts zur Regel macht. […] Das Gesetz macht Knechte; sobald man aus dem Freiesten ein Gesetz macht, ist das freie Leben dahin, und ohne freies Leben will ich keine Gesellschaft, denn in ihr will ich ja eben vergessen, daß ich ein Knecht bin. Man mache also keine Gesetze aus Regeln, die nur so lange gut sind, als man nicht recht sagen kann, was sie sind. Die Guten und Gebildeten müssen die Zuversicht haben, sich selbst Maß und Regel sein zu können.“ [14]

Die Aufgabe, Ich zu sagen, die Anstrengung echter Charakterbildung können wir nicht an andere delegieren. Wo hingegen Bildung nicht mehr als Befähigung zur Selbstbestimmung verstanden, sondern auf ihre äußere soziale Seite und damit auf eine soziologisch beschreibbare Anpassungsleistung reduziert wird, wo der Zusammenhang von Bildung und Erziehung aufgelöst und Geltungsansprüche geleugnet werden (was im Grunde ein Selbstwiderspruch bleibt, da auch die Leugnung einen Geltungsanspruch setzt), löst Aktion die Reflexion ab. Die rationale Abwägung wird durch Aktivismus ersetzt. Ein solcher schlägt leicht in Gewalt um, da gehandelt, das Handeln aber nicht mehr als begründet ausgewiesen wird. Wir erleben das, wenn gefordert wird: Gendern, Inklusion, Klimaneutralität – einfach machen! Am Ende geht die Achtung vor dem freien Subjekt verloren. Dies zeigt, was mit einem stabilen, leistungsfähigen und wertorientierten Kulturstaat auf dem Spiel steht.

Eine Erziehung zur „Gottesfurcht“ (oder wie anders wir davon sprechen wollten), zur Freiheit im Denken, Reden und Handeln sowie zur sittlichen Verantwortung ist nicht operationalisierbar und intentional zu erzeugen. Sie bedarf des erzieherischen Umgangs und des lebendigen Vorbilds. Daran ist zu erinnern in Zeiten, in denen Bildung oftmals so etwas wie das neue Heilsversprechen der säkularisierten „Wissensgesellschaft“ geworden ist.

Ein Letztbezug schützt davor, den Anspruch auf Bildung quasireligiös zu überhöhen, in Gestalt einer pädagogischen Kontrollgesellschaft, einer Erziehungsdiktatur oder durch manipulative Pädagogisierung aller Lebensbereiche. Ohne Letztbezug im weitesten Sinne, so die Überzeugung der Verfassungsväter, wäre eine Bildung der sittlichen Person gar nicht denkbar. Bildung kann zwar den Raum eröffnen, die Sinnfrage zu stellen, einen letzten Lebenssinn findet der Einzelne in ihr jedoch nicht. Bildung verweist den Einzelnen auf sich selbst, seinen Lebenssinn zu suchen und jene Wahrheit zu erkennen, die ihn frei macht – frei jenseits aller menschengemachten Bildungsanstrengungen.

Der moderne Staat, der die Freiheit seiner Bürger nicht durch eine teleologische Ordnung normiert, kann nicht selbst sittliche oder geistige Zwecke setzen. Dies begrenzt den Staat: Den eigenen Bestand wie seine Produktivität wird der freiheitliche Rechts- und Verfassungsstaat nur sichern, wenn seine Bürger zur Selbsttätigkeit freigesetzt werden. Er muss hierfür aber den notwendigen Rahmen zur produktiven Entfaltung von Freiheit setzen. Mit einem Artikel wie dem eben zitierten trifft der Verfassungsgesetzgeber eine wichtige Wertvorentscheidung. Dabei geht es um eine soziale Verantwortung für Werte und Normen, Ethos und Tradition, Kultur und Religion, die weit über unsere eigene Gegenwart hinausreicht. Denn wie künftige Generationen leben, denken und handeln werden, wird wiederum davon beeinflusst werden, wie wir heute leben, denken und handeln. [15]

Gemeinsame Orientierungswerte, sozialer Zusammenhalt und Bürgersinn stehen als Ressourcen nicht beliebig zur Verfügung. Die Fundamente, die Staat und Gesellschaft zusammenhalten, müssen gepflegt werden. Ein Gemeinwesen sollte daher mit seinen Traditionen, dem Wissen um seine kulturelle Herkunft und Identität nicht allzu verschwenderisch oder leichtfertig umgehen, wenn diese Fundamente nicht bröckeln sollen. Gerechtigkeit im Staat wird technokratisch, wenn sie nicht mehr auf den Tugenden seiner Bürger fußt. Diese bleiben unverzichtbar für ein humanes und geordnetes Zusammenleben. Unser gesellschaftliches Ethos hat eine Grundlage in der Freundschaft unter Bürgern, die auch Krisen durchstehen lässt. Sie „beruht auf der Vorzüglichkeit ihrer seelischen Veranlagung, auf der konzentrierten Pflege solcher Veranlagung im Austausch mit den Freunden sowie auf der daraus sich erbildenden vernünftigen Einsicht.“ [16]  – so der Theologe Joachim Negel. Wo dieses Ethos zerfällt, setzen über kurz oder lang politische, soziale und kulturelle Verteilungskämpfe ein.

Die freiheitliche Verfassung liefert zwar Orientierungsmaßstäbe, wie die Ziele der Verfassung hingegen innerlich verwirklicht werden, bleibt Sache des mündigen Bürgers. Dem Bürger bietet dies die Möglichkeit der Wahl, bedingt aber auch einen Zwang zur Entscheidung. Es liegt an uns, die „Leerstelle“ der weltanschaulich neutralen Verfassungsordnung inhaltlich mit gelebten Orientierungswerten zu füllen. Das ist etwas anderes, als christliche Symbole aus dem öffentlichen Raum zu verbannen, wie 2022 im Münsteraner Friedenssaal beim G7-Treffen geschehen oder im Falle der Bibelinschrift auf der Kuppel des rekonstruierten Berliner Stadtschlosses diskutiert.

Erst aus dem sichtbaren Vorhandensein sich überschneidender, auch konkurrierender Orientierungswerte gewinnt die freiheitliche Verfassungs­ordnung inhaltliche Erfüllung und sittliche Maßstäbe. Und zu diesen gehört auch ein Wissen um die Grenzen der Kompromissbereitschaft.

4. Die rote Linie

Die rote Linie ist ein geflügeltes Wort der Politik. Bei Demonstrationen gegen die Coronapolitik, wie Deutschland sie 2021 und 2022 erlebt hat, waren Transparente zu sehen, auf denen stand: „Wir sind die rote Linie.“ Aktivisten der „Letzten Generation“ twitterten im März 2022: „Hier ist die rote Linie.“ – und drohten, „wenn ihr darüber geht“, mit zivilem Widerstand. Parteien berufen sich darauf, wenn sie Bereiche absichern wollen, die zum Kern ihrer Identität gehören. Für die einen ist es der Atomausstieg, für die anderen die Schwarze Null. Solche Grenzziehungen sind sehr oft ideologische oder strategische Bekenntnisse, etwa gegenüber den eigenen Anhängern oder dem Koalitionspartner.

Und doch: Politische Ethik braucht die rote Linie. [17] Politische Konflikte sollten nicht über Gebühr zu moralischen Ziel- oder Gewissenskonflikten aufgebaut werden. Umgekehrt gilt aber auch: Ohne Wertbindung verkommt Kompromisshandeln letztlich zur Willkür. Wenn Kompromisse der ethischen Anstrengung bedürfen und ihre Verfahren sich ethischer Bewertung aussetzen müssen, beinhaltet dies ebenso, dass in bestimmten Situationen auch die Verweigerung eines Kompromisses notwendig werden und sittlich verantwortlich sein kann. Nicht alle abstimmungsfähigen Positionen sind schon von vornherein legitime Alternativen des Guten, die im Rahmen des Richtigen nebeneinander stehenbleiben können. Würden wir anderes annehmen wollen, wäre der Menschenwürdegarantie, die aller Verfassung voransteht, im Letzten der Boden entzogen.

Politische Urteilskraft braucht beides: auf der einen Seite die Bereitschaft, sich zu binden, und Loyalität, eine Bindung auch aufrechtzuerhalten; auf der anderen Seite aber auch die Bereitschaft, eigene Vorverständnisse, Motivationen und Überzeugungen immer wieder zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren.

Verantwortliche Urteilsfähigkeit in politischen Dingen bedarf der notwendigen Distanz und Kritik gegenüber den verschiedenen politischen Doktrinen, Programmen, Konzepten oder Praktiken, aber auch der notwendigen Selbstkritik gegenüber dem eigenen politischen Urteilen und Verhalten. Dies ist kein Aufruf, zur Abstinenz vom politischen oder gesellschaftlichen Leben – im Gegenteil. Es ist wohl aber eine Aufforderung, Nüchternheit und ein gerüttelte Maß an Skepsis gegenüber gesellschaftlicher Wirklichkeit walten zu lassen, wie es der frühere Salzburger Rektor, Wolfgang Beilner, ausgedrückt hat: „Man soll die eigene wie die fremde ‚Korruptionsanfälligkeit‘ in keiner Weise übersehen“ [18].

Ernsthaftes Bemühen um Bildung und damit ebenso zentral um Bildung des eigenen Gewissens bleibt eine unverzichtbare Voraussetzung für die individuelle Freiheit des politischen Urteils und der politischen Entscheidung. Denn auch wenn politische Entscheidungen korporativ getroffen werden, entbindet dies den Einzelnen nicht, seine Zustimmung oder Ablehnung etwa einer Parteientscheidung ethisch zu verantworten, weder als Funktionsträger noch als Mitglied. Ein wichtiger Gradmesser zur Rechtfertigung oder Ablehnung von Parteibeschlüssen bleibt dabei das Maß an Fremd- oder Selbstbindung, das ein Mitglied mit einer Entscheidung übernimmt. Bei schwerwiegender Materie stellt sich die Frage, ob eine Mitgliedschaft als solche noch aufrechterhalten werden kann oder nicht. Das Gesagte gilt allerdings nicht allein für Parteien.

Jede Entscheidung zu einer Mitgliedschaft in einer Partei, einem Verein oder Verband bleibt eine Kompromiss­entscheidung, da wohl niemals eine vollständige Kongruenz zwischen korporativen und individuellen Zielen oder Überzeugungen angenommen werden kann – erinnert sei an das oben zitierte Wort Thielickes vom Kompromiss als Paradigma menschlichen Lebens schlechthin. Jede Mitgliedschaft, jedes Mitwirken in einer Gemeinschaft vermittelt gehaltvolle soziale Erfahrungen. Zur sittlichen Verantwortung der Gemeinschaft gehört es, Individualität und freie Entfaltung ihrer einzelnen Mitglieder zu garantieren, in gegenseitigem Zusammenhalt, Verstehen und Fördern. Dem Einzelnen ermöglicht diese Erfahrung, sich zu bilden und weiterzuentwickeln, im Ringen um gemeinsame Überzeugungen und im Streben nach gemeinsamen Zielen.

Allerdings sind gemeinsame Überzeugungen und Ziele kein fester Besitzstand. Wenn eine Organisation oder Gemeinschaft daher grundlegend ihren Charakter, ihre Wertgrundlage, ihre Programmatik oder ihre Ziele verändert, kann bei aller notwendigen Loyalität und beim bleibenden Wert langfristiger Bindungen ein Austritt die verantwortliche Konsequenz sein. Bindung und Exit sind zwei Kehrseiten ein und derselben Medaille; beide gehören für eine Ethik der Mitgliedschaft [19] zusammen. Dabei wird ein Austritt umso schwerer fallen, je mehr es nicht allein um begrenzte, funktionale, strategische Interessengemeinschaften geht, sondern um stärker von gemeinsamen Idealen, Traditionen oder Freundschaften getragene Zusammenschlüsse, gar um Lebensbünde geht.

Der Vortragende hat seinerzeit über eine Verantwortungsethik politischer Parteien aus christlich-sozialethischer Perspektive promoviert – und musste gerade für das Kapitel zur Mitgliederethik deutlich streiten. Möglicherweise fällt es leichter, über politische Verantwortung zu sprechen, wenn diese abstrakt bleibt oder nur „diejenigen da oben“ betrifft. Die Frage soll an dieser Stelle offenbleiben. Siebzehn Jahre nach Abschluss der Dissertation und achtundzwanzig Jahre nach Eintritt in eine politische Partei war für ihn der Moment zum Austritt gekommen. Der Grund war ein Verlust der roten Linie: 

Denn eine Politik ohne rote Linien, wie der neue Bundeskanzler, Olaf Scholz, sie in einer Regierungserklärung im Dezember 2021 [20] für die Coronabekämpfung ausgab, verneint nicht nur jegliche ethische Anstrengungsbereitschaft, bei den coronapolitischen Wertkonflikten einen moralisch qualifizierten Ausgleich zu finden, sondern auch die roten Linien der Verfassung.

5. Ertrag – gebündelt in fünf Punkten

(1.) Bei gravierenden gesellschaftlichen Konflikten, wie sie beispielsweise in der Impfpflichtdebatte zu erleben waren, ist versucht worden, diese dadurch abzuschwächen, dass anstelle einer rechtlichen Verpflichtung eine moralische Pflicht proklamiert wurde, so etwa das Mitglied des Nationalen Ethikrates, der Berliner Moraltheologe Andreas Lob-Hüdepohl. [21] Moralische Pflichten, die zum Gegenstand politischer Auseinandersetzung werden, sind keinesfalls schonender oder weniger polarisierend. Denn der Einzelne kann sich einer Rechtspflicht, der er sich äußerlich, wenn auch vielleicht widerstrebend und ungern, unterwirft, innerlich entziehen. Bei einer moralischen Pflicht gelingt das nicht. Einer inneren Distanzierung ist die notwendige Freiheit hierzu entzogen, weil durch Rekurs auf das Gewissen dem Einzelnen die Freiheit zur individuellen Abwägung gerade genommen und das Gewissensurteil zu einer bereits außerhalb getroffenen, sozialethisch-politischen Entscheidung verkehrt wird. Das Gewissen, das sich dem öffentlichen Druck widersetzen will, wird in letzter Konsequenz zum irrenden Gewissen erklärt. 

Wo aus einer wahrhaft freien Wahl moral- oder rechtsmissbräuchlich eine Regel gemacht wird, steht nicht mehr die Beziehung des einen zum anderen im Vordergrund, sondern eine Norm, die den Einzelfall übersieht. Es geht nicht mehr um ein freigewähltes Sollen, sondern um äußere Kategorien und Kriterien, denen der Einzelne entsprechen muss. Wer danach strebt, eine moralische Entscheidung zu treffen, dabei aber die von außen gesetzten Regeln und Normen verfehlt, sieht sich dem Vorwurf des Verrats und der Gefahr sozialer Ächtung gegenüber. Nicht mehr das moralische Ziel ist dann entscheidend, sondern die Einhaltung einer Regel. Nicht die Weigerung des Einzelnen, sich um eine verantwortliche moralische Urteilsbildung zu bemühen, macht schuldig, vielmehr wird die Regelverletzung zur sozialen Sünde.

Erzwungene Werturteile sind vielleicht kurzfristig politisch wirksam, aber moralisch wertlos – und sie polarisieren das gesellschaftliche Zusammenleben. Eine vom Staat angeordnete, geleitete oder erzwungene öffentliche Moral entmündigt den Einzelnen und unterläuft, was angestrebt wird. Eine aufgezwungene Moral verkehrt sich ins Gegenteil: Sie stärkt weder das gesellschaftliche Ethos und führt nicht zu sozialen Tugenden, sondern zu Anpassung und Camouflage. Schaden nehmen die sittliche Verantwortung und die Bereitschaft der einzelnen Glieder des Staates, sich für das Ganze einzusetzen und an den öffentlichen Angelegenheiten Anteil zu nehmen.

Ein die Freiheit seiner Bürger absorbierender Staat wäre weder moralisch legitim noch auf Dauer produktiv. Aber auch ein in keiner Weise vergesellschafteter Wille wäre eine Fiktion; der Staat müsste sich in diesem Fall auf eine Minimalmoral zurückziehen und könnte allein Notfunktionen erfüllen. Daher bedarf es eines vermittelnden Bindegliedes zwischen der Tätigkeit des Staates und der Tätigkeit seiner verschiedenen einzelnen Glieder: Es bedarf einer gesellschaftlichen Öffentlichkeit, in der über die verschiedenen menschlichen Teilpraxen hinweg nach einer gerechten und guten Ordnung der menschlichen Gesamtpraxis gesucht und argumentativ, fair und rational darum gerungen wird, wie Dilemmasituationen im praktischen Handlungsvollzug gelöst werden können.

(2.) Der Kompromiss, auf den politisches Handeln nicht verzichten kann, bedarf der ethischen Anstrengung. Gewissensfragen stellen sich nicht zuletzt an der Grenze, an der Komprossmissbereitschaft und Aushandlungsfähigkeit enden. Die rote Linie bleibt eine wichtige Grenze zwischen dem, was im politischen Geschäft notwendiger Kompromissfähigkeit offensteht, und jenem Bereich, der aus Gründen höherrangigen Menschenrechts nicht verhandelbar ist und in dem Wertkonflikte über den Weg praktischer Konkordanz gelöst werden müssen. Der Umgang mit gravierenden Wertkonflikten verlangt eine rationale Diskussion darüber, in welchen Fragen Kompromisse nicht eingegangen werden sollten, weil sie die moralische Haltung innerlich korrumpieren.

Diese Unterscheidung treffen zu können, bedeutet, dass die Frage nach dem unantastbaren Bereich des Gewissens immer schon im Prozess politischer Aushandlung mitzudenken ist. Die Frage nach dem Gewissen stellt sich keineswegs erst dann, wenn im politischen Geschäft etwas ausdrücklich zur Gewissensfrage erklärt wird, wie es beispielsweise bei bestimmten Bundestagsdebatten geschieht, wenn die Fraktionsdisziplin aufgehoben wird. Vorletzte Fragen sollten nicht ohne Not zur Gewissensfrage erklärt werden, da moralische Pflichten, wie vorstehend gezeigt wurde, keinesfalls schonender sind als rechtliche. Doch läuft die Gewissensfrage beständig bereits im Rahmen politischer und gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse mit, und zwar bei der Vermittlung zwischen dem konsensual und dem individuell Unendlichen. Keineswegs trivial ist im weltanschaulich pluralen, freiheitlichen Rechts- und Verfassungsstaat allerdings die Frage, wie das individuell Unendliche nach außen kommuniziert werden kann. In bestimmten Fällen, etwa beim Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung oder bei der Unterscheidung zwischen Mord und Totschlag, hat der Rechtsstaat hierfür juristische Hilfskonstruktionen entwickelt.

(3.) Geschichte wiederholt sich nicht. Die ethische Situation, in der es Entscheidungen zu treffen gilt, stellt sich immer wieder neu und verändert dar. Was aber wiederkehrt sind Strukturen, weshalb es wichtig bleibt, über politische und soziale Erfahrungen im Umgang mit Wertkonflikten zu reflektieren. Überdies bleiben soziale Erfahrungen kollektiv im Gedächtnis. Die zurückliegende Corona- und Impfpolitik etwa hat zu starken Polarisierungen und gesellschaftlichen Verwerfungen geführt, die nach einer angemessen Aufarbeitung verlangen. Die damit verbundenen ethischen Wertkonflikte wirken fort und können bio- oder infektionsschutzpolitisch erneut aufflammen, da beispielweise zu erwarten steht, dass sich der Einsatz der umstrittenen mRNA- oder Vektortechnologie fortsetzen wird. Biopolitische Sicherheit bleibt überdies in einer globalisierten Welt ein fragiles Gut. Aber auch in anderen Feldern, etwa der Klimaschutz- oder Energiepolitik, sind deutliche Eingriffe in den grundrechtlich geschützten Privatbereich möglich, die ähnlich gelagerte Konfliktlagen hervorrufen und Fragen nach den Möglichkeiten politischer Kompromissbildung aufrufen.

(4.) Gewissensfreiheit ist ein starkes individuelles Grundrecht. Gewissensfragen werden aber nur dort erkannt, wo auch ein differenziertes Verständnis für individuelle Freiheit lebendig ist. Ein solches gilt es zu verteidigen gegen einen sozialen Freiheitsbegriff, der Freiheit zuallererst als institutionell verfasste Freiheit mit anderen versteht. [22] Richtig ist, dass der Mensch nicht nur gemeinschaftsfähig, sondern auch konstitutiv gemeinschaftsbedürftig ist. Personale Freiheit bleibt sozial verpflichtet; umgekehrt dürfen aber individuelle Bedürfnisse auch nicht für die Interessen der Gemeinschaft funktionalisiert werden. Die Personalität des Menschen realisiert sich in einer bleibenden Grundspannung zwischen Individualität und Sozialität, die nicht einseitig aufgelöst werden darf. Wird soziale Freiheit aber so gedacht, dass diese auf Institutionen nicht nur angewiesen, sondern vorrangig durch solche erst ermöglicht und konstituiert wird, verlieren Grundrechte ihren abwehrrechtlichen Charakter und können letztlich vom Staat nach politischem Ermessen zugeteilt oder entzogen werden.

Das Beste verdirbt, wenn die freie Wahl zum Guten institutionalisiert und kollektiviert wird. Dann besteht die Gefahr, die moralische Forderung dem anderen zu seinem eigenen vermeintlich Besten an den Kopf zu werfen. Es geht dann nicht mehr um die Unterscheidung zwischen gut und böse, sondern die bloße Einhaltung einer sozialen Norm wird zum Wert an sich. Wo die freiwillig und verantwortlich getroffene Antwort des Einzelnen auf eine ethische Herausforderung durch verallgemeinerte Regeln ersetzt wird, droht die Gefahr, dass diese zur Ideologie werden. Doch weiß die ethische Tradition gleichwohl darum, dass ein Gewissen durchaus irren kann. Für den Einzelnen bleibt daher die aszetische Pflicht, sich um eine verantwortliche Bildung seines Gewissens zu mühen und in einer gravierenden Krisensituation eine sorgfältige und differenzierte Güter- und Übelabwägung vorzunehmen.

(5.) Staatliche Zugriffe auf die Gewissensfreiheit und Selbstbestimmungsfähigkeit des Einzelnen allerdings unterhöhlen das moralische Fundament des Verfassungsstaates und einer freiheitlichen Gesellschaft. Sind Grundrechtseingriffe in einer gravierenden Gefährdungslage unumgänglich, obliegt dem Staat eine schwere Begründungslast und sind deren Ziele nicht pauschal, sondern konkret zu benennen. Einer solchen Rechtfertigungspflicht angemessen zu entsprechen, setzt eine differenzierte Debatte über die betroffenen Schutzgüter, die mittelbaren Effekte und direkten Ziele der getroffenen politischen Maßnahmen, über die zugrundeliegenden Kausalitätsannahmen und das Zweck-Mittel-Ver­hältnis und so weiter voraus. Der liberale Rechts- und Verfassungsstaat kennt grundsätzlich keine absoluten Wertsetzungen, sondern fordert von den politisch und rechtlich Verantwortlichen eine differenzierte Abwägung unterschiedlicher Rechtsgüter. Soll im Zweifelsfall die Gefahr rechtsfehlerhafter Entscheidungen oder übergriffiger moralischer Urteile vermieden werden, gilt es, der Gewissensfreiheit den Vorzug  zu geben.

Literatur

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Anmerkungen

[1] Vgl. Klöcker (2020, S. 21 f.).

[2] Sutor (1997, S. 46).

[3] Thielicke (1986, S. 67-85).

[4] Vgl. Lohfink (1984, S. 49 f.).

[5] Vgl. Messner (1958, S. 721-724).

[6] Thielicke (1986, S. 81).

[7] Ebd. (S. 83).

[8] Monzel (1958/59, S. 242, im Original sind „endgültiger“ und „vorläufigen“ kursiv hervorgehoben).

[9] Vgl. Rippe (1997).

[10] Müller (1980, S. 154-158).

[11] Art. 33 Verfassung für Rheinland-Pfalz.

[12] Sternberg (2013, S. 24).

[13] Zur Bedeutung von Religion für den weltanschaulich neutralen Rechts- und Kulturstaat vgl. ausführlich Kunze (2022).

[14] Arndt (2004, S. 179).

[15] Vgl. zu diesem Gedankengang ausführlich Paulig (1994).

[16] Negel (2019, S. 127).

[17] Vgl. Resing (2022, S. 4 f.).

[18] Beilner (1982, S. 160).

[19] Vgl. Kunze (2005, S. 421 – 428).

[20] Vgl. z. B. WELT (2021).

[21] Vgl. Lob-Hüdepohl (2021, S.9).

[22] Vgl. z. B. Becka/Ulrich (2022, S. 13).

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