Oleg Dik, Jan Dochhorn, Axel Bernd Kunze: Menschenwürde im Intensivstaat? Theologische Reflexionen zur Coronakrise (Philosophie interdisziplinär; 54), Regensburg: S. Roderer vorauss. 2023.
Der Band soll voraussichtlich Ende 2023 erscheinen. Rezensionsexemplare können Sie gern mit E-Mail an Kunze-Bamberg@t-online.de bei mir vormerken lassen.
Inhaltsübersicht:
Einführung: Von einer Tagesordnung zu der anderen (Jan Dochhorn)
1. Gesprächsstörungen. Eine sozial- und bildungsethische Ursachensuche im Angesicht der Coronakrise (Axel Bernd Kunze)
2. Paradoxologia Theologica. Ansätze zu einer Gesellschaftskritik aus theologischer Sicht angesichts der Coronakrise (Jan Dochhorn)
3. Die zerrissene Menschenwürde. Corona als Symptom einer theologischen Krise (Oleg Dik)
4. Intensivstaat und zivilgesellschaftliche Staatsbedürftigkeit. Sozial- und freiheitsethische Betrachtungen zum Staatsverständnis (nicht nur) in Coronazeiten (Axel Bernd Kunze)
Zur Idee und Konzeption des Bandes:
Am 7. April 2023 ist in Deutschland der rechtliche Rahmen für die letzten noch verbliebenen Coronaschutzmaßnahmen ausgelaufen. Eine Zeit gravierender Grundrechtseingriffe und erbitterter impfpolitischer Debatten liegt hinter uns. Doch beendet ist das Thema keineswegs. Die Politik der Impfnötigung und versuchten allgemeinen Impfpflicht ist in Wahlkämpfen weiterhin präsent. Die damit verbundene gesellschaftliche Polarisierung dauert fort. Eine umfassende juristische und politische Aufarbeitung des Geschehenen steht noch aus. Brandenburg ist bisher das einzige Bundesland, in dem zwei parlamentarische Ausschüsse dabei sind, die Coronamaßnahmen zu untersuchen.
Für nicht wenige bleibt die Coronazeit eine einschneidende Erfahrung; selten wurden staatliche Maßnahmen derart existentiell empfunden. Mit dem politischen Kursschwenk Richtung Impfdruck und Impfpflicht, der im August 2021 offen eingeleitet wurde, ist eine rote Linie überschritten worden: In rascher Folge wurden immer stärkere Eingriffe in die individuelle Freiheit angedroht und vorgenommen. Selbst der eigene Körper sollte nicht mehr tabu sein. In der Folge gingen Montag für Montag – trotz kommunaler Verbote – Menschen am Abend spazieren. Die Wiedererweckung der Montagsspaziergänge war ein stiller Protest gegen eine aus guten Gründen als affekt- und ressentimentgeleitet wahrgenommene Politik, die nicht mehr gewillt war, das Recht auf körperliche Selbstbestimmung und die freie Entscheidungsfähigkeit des Einzelnen zu achten. Und es war zugleich ein stiller Protest gegen eine öffentliche Stimmung im Land, in der nicht mehr frei und fair, unvoreingenommen und differenziert diskutiert werden konnte.
Wer kritische Fragen an die Coronapolitik stellte, musste sich als Coronaleugner, Schwurbler oder Verschwörungstheoretiker titulieren lassen. Wer die freie Impfentscheidung verteidigte, wurde mangelnder Solidarität bezichtigt. Mit dem – selbst von Virologen bestrittenen – Narrativ einer „Pandemie der Ungeimpften“ war ein Sündenbock schnell gefunden. Doch Personen, die sich nach sorgfältiger Abwägung nicht impfen lassen, treffen eine ethisch verantwortliche Entscheidung, die der freiheitliche Rechts- und Verfassungsstaat zu achten hat. Diesem sind aus guten Gründen Grenzen gesetzt. Eine Schutzverantwortung des Staates, welche die personale Freiheit der Einzelnen nicht achtet, liefe auf das Gegenteil von Schutz für den Einzelnen hinaus. Auch wenn staatliche Schutzpflichten gern als Freiheitsgewinn angepriesen werden, muss klar bleiben: Politische Freiheitsrhetorik darf niemals die konkrete Freiheit des Einzelnen verdrängen.
Mit dem geplanten WHO-Pandemievertrag droht die Entscheidung über gravierende Grundrechtseingriffe in biopolitischen Krisensituationen zum Automatismus zu verkommen, ohne nennenswerte nationale Willensbildung und Entscheidungsfindung. Freiheit sieht anders aus, sollte im freiheitlichen Rechts- und Verfassungsstaat anders aussehen. Was in den Coronajahren geschehen ist, muss aufgearbeitet werden. Es darf nicht zum Testlauf für weitere schwere Verletzungen der körperlichen Selbstbestimmung bei künftigen Krisen werden.
Die Theologie im Land, die ansonsten gern von Gerechtigkeit und Befreiung, Anerkennung und Respekt spricht, blieb (und bleibt) angesichts dieser Entwicklungen auffällig stumm. Die amtlichen Kirchen trugen die Coronapolitik nahezu widerspruchslos mit. Dabei hätte es mindestens (aber nicht nur) sozialethisch eine Menge zu sagen gegeben angesichts des mehr als schlampigen Umgangs mit Grundrechten und angesichts einer Infektionsschutzpolitik, die mit differenzierter Abwägung und rationaler Gesundheits- und Krisenvorsorge vielfach nur noch wenig zu tun hatte. Doch aus den theologischen Fakultäten und Kirchen war, von einzelnen Stimmen abgesehen, vor allem Schweigen zu vernehmen.
Drei Theologen, die sich aus dem Netzwerk Wissenschaftsfreiheit kannten, erfüllte diese Wahrnehmung mit Unbehagen. Sollten Theologen nicht mehr zu sagen haben angesichts einer Politik, die unser Menschenbild und Staatsverständnis, unser Freiheitsbewusstsein und Moralverständnis, unser Leibverhältnis und unsere Personwürde deutlich herausfordert? Und schnell wurden in den gemeinsamen Gesprächen und Suchbewegungen zwei Annahmen deutlich: Zum einen geht es nicht allein um sozialethische Fragen. Die Coronakrise verlangt nach einer tiefergehenden Reflexion, die theologisch breiter angelegt sein muss. Zum anderen bleibt es wichtig, diese Debatte nicht allein tagesaktuell zu führen, sondern mit einem längeren Atem. Die Idee zum vorliegenden Band war geboren.
Das theologische Schweigen soll gebrochen werden. Hierzu will der Band einen Beitrag leisten. Dieser ist zunächst einmal ein Gesprächsangebot an die eigene Zunft. Aber er richtet sich genauso nach außen, angesichts eines geistigen Klimawandels im Land, der allenthalben spürbar ist: Als im Dezember 2021 die neue Bundesregierung vereidigt wurde, verzichtete eine bemerkenswert hohe Zahl an Kabinettsmitgliedern auf die religiöse Eidesformel, darunter auch der Bundeskanzler. Zwar haben auch zuvor immer wieder Politiker auf die religiöse Bekräftigung ihres Amtseides verzichtet, durchaus auch Politiker mit christlicher Überzeugung. Mittlerweile geht es aber um mehr: um deutliche Verschiebungen in der politischen Rhetorik und in den geistigen Orientierungen unseres Zusammenlebens.
Ja, es bleibt im liberalen, weltanschaulich neutralen Rechts- und Verfassungsstaat das freie Recht des Einzelnen, ob er die Anrufung Gottes hinzufügt oder nicht. Aber es zeigt sich: Eine politische Kultur, die zunehmend vom Religiösen Abstand nimmt, wird nicht freiheitlicher. Vielmehr wachsen säkulare Wahrheits- und Machtansprüche. Die religiösen Elemente unserer Verfassungsordnung sind doch mehr als nur überkommener politischer Zierrat.
Nach dem Willen des Souveräns sollen die Regierungsmitglieder ihr politisches Amt „in Verantwortung vor Gott und den Menschen“ ausüben. Ein solches Bewusstsein kann vor politischer Hybris bewahren – oder anders ausgedrückt: vor einer Amtsauffassung, die „keine roten Linien“ kennt. Bundeskanzler Scholz hat diese Formulierung, die wohl Entschlossenheit demonstrieren soll, zu Beginn seiner Amtszeit gleich mehrfach wiederholt. Aber ein Bundeskanzler, der keine roten Linien kennt, überschreitet eben gerade jene Grenzen, welche die Verfassung staatlicher Gewalt zieht.
Es geht um deutlich mehr als eine politische Stilfrage. Wo keine roten Linien mehr gelten sollen, sind auch Menschenwürde und Selbstbestimmung des freien Subjekts nicht mehr geschützt. Gewiss doch: Gegen Politiker, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, für Entscheidungen einzustehen und auch bei Kritik Prinzipienfestigkeit beweisen, ist nichts zu sagen. Wir brauchen Politiker mit Pflichtgefühl und Verantwortungsethik, die mehr sein wollen als „Pragmatiker des Augenblicks“, immer frei nach dem Motto: Hier stehe ich, ich kann auch jederzeit anders … Was wir allerdings nicht brauchen, sind Politiker mit Erlösungsversprechen, Machbarkeitsphantasien oder Selbstüberschätzung.
Der Verfassungsgesetzgeber hat mit der Gottesformel eine wichtige Wertvorentscheidung getroffen, die alle staatliche Gewalt bindet, eben rote Linien zieht. Dabei geht es um jene letzte Grundlage, die uns überhaupt moralisch handeln lässt. Es geht um ein Bekenntnis, dass wir noch einer anderen Instanz, Gott und Gewissen, gegenüber verpflichtet sind. Es geht um eine Rückversicherung gegenüber totalitären Tendenzen und einer Selbstüberschätzung des Menschen. Die Gottesformel wehrt das Verständnis eines Staates ab, der sich absolut setzt. Sie steht gegen jedwede Form des Materialismus, der den Menschen in letzter Konsequenz nur mehr als Funktionär der sozialen Verhältnisse betrachtet, ihm aber letztlich keine höheren geistigen Antriebe, Interessen oder Ziele zuzugestehen vermag. Die hier vorgelegten theologischen Reflexionen reagieren auf die Erfahrungen der Coronakrise, bleiben aber keinesfalls darauf beschränkt. Ihr Horizont und ihre Kritik an aktuellen Entwicklungen im gesellschaftlichen Zusammenleben sind deutlich weitergespannt.
Die Verfasser, die sich zusammengefunden haben, kommen aus unterschiedlichen konfessionellen Traditionen und aus verschiedenen theologischen Disziplinen. Der Bogen reicht von der Exegese über die Sozialethik bis zur Religionssoziologie. Jeder Autor verantwortet seinen eigenen Beitrag selbst. Aus den verschiedenen Zugängen formt sich trotz aller Unterschiede ein gemeinsamer theologischer Blick auf das, was in den Coronajahren erlebt und erfahren wurde. Aus diesem Bestreben heraus wurde auf die Zuweisung einer Herausgeberrolle bewusst verzichtet.