Zwischenruf: Ideologie schlägt Pädagogik – ein Leipziger Beispiel darf keine Schule machen

„Das Lehren muß die Freiheit der Vernunft achten, sonst verstößt es gegen die Menschenrechte. […] Wer für die zu lernenden Aussagen das Argumentieren verweigert, verletzt Menschenrecht; wer Zustimmung zu vorgestellten Aussagen erschleicht, der verletzt Menschenrecht; wer Methoden des Lehrens vorschreibt, die das kritische Prüfen ausschließen, verletzt Menschenrecht.“ – so der Wiener Pädagoge Marian Heitger vor genau fünfundzwanzig Jahren. Es wäre Zeit, sich endlich wieder daran zu erinnern. Denn der Graben zwischen dem, was einmal humanistische Bildung war, und dem, was heute an Schulen unter (politischer) Bildung verstanden wird, scheint mittlerweile garstig und unüberbrückbar geworden zu sein. Ein aktuelles Beispiel aus Leipzig zeigt einmal mehr, wenig die Freiheit der Vernunft in der Schule noch verstanden wird. Da marschiert eine Schule gemeinsam zum Klimastreik von „Fridays for Future“, ganz offen deklariert als Projekttag, mit Anwesenheitspflicht und so weiter. Immerhin: Es gibt noch Eltern, die sich peinlich erinnert fühlen an Zeiten, die man meinte hinter sich gelassen zu haben. Wie in der DDR sei das, bekundet ein Vater zu recht. Und weiter: Damals seien die Schüler auch zum Demonstrieren geschickt worden.

Ein solches Vorgehen der Schule verlässt eindeutig den Beutelsbacher Konsens, verletzt das Überwältigungs- und Indoktrinationsverbot sowie das Kontroversitätsgebot gleichermaßen – und zwar, anders als der Schulleiter meint, unabhängig davon, ob es um Fünft- oder Zehntklässler geht. Was hier passiert, ist eine ideologische Vereinnahmung der Schüler zugunsten einer einer einseitigen, radikalen politischen Sichtweise. Mit einem freiheitilchen Kulturstaat hat das nichts mehr zu tun. Immerhin verdichtet sich in Wählerumfragen deutlich wahrnehmbarer Widerspruch gegen diese ideologische Umdeutung unserer Wert- und Verfassungsordnung. Als Gemeinschaftskundelehrer kann ich nur sagen, es ist beschämend, was hier passiert.

Die Schüler sollen nicht etwas für gut halten, weil die Schule dies vorschreibt. Sie sollen zum eigenständigen Werten und zum Beurteilen von Alternativen befähigt werden. Doch darum geht es in Leipzig offenbar nicht mehr. Die Schüler werden zur Demo abkommandiert, nach dem Motto: Reih Dich ein in die Einheitsfront. Wo auf diese Weise suggeriert wird, das Werturteil stehe bereits fest und müsste pädagogisch nur noch exekutiert werden, bleibt für eine Prüfung des Gelernten kein Raum mehr. Am Ende stünden nicht Schüler, die selbständig denken, sondern solche, die es verlernt haben, selbständig zu denken.

Dem Beutelsbacher Konsens gelang es 1976, die Kontroversen innerhalb der seinerzeit parteipolitisch wie konzeptionell stark polarisierten Politikdidaktik zu befrieden. Mittlerweile ist die Übereinkunft in die Jahre gekommen, auch wenn seine drei Grundprinzipien bis heute als Förderrichtlinien für die politische Bildung weiterhin in Kraft sind. Das Prinzip der Schülerorientierung will die Lernenden dazu führen, die politische Situation wie die eigene Position zu analysieren und politisch handlungsfähig zu werden. Ferner müssen die Inhalte in der politischen Bildung didaktisch so aufbereitet werden, dass Schüler diese denkend nachvollziehen können und nicht für eine bestimmte partikulare Position vereinnahmt werden (Überwältigungsverbot). Jeder Unterricht steht vor der Herausforderung didaktischer Reduktion. Doch dürfen dabei politisch-gesellschaftliche Kontroversen nicht fahrlässig vereinfacht werden; was in Wissenschaft und Politik kontrovers beurteilt wird, muss auch im Unterricht kontrovers dargestellt werden (Kontroversitätsgebot).

Die gegenwärtige Polarisierung innerhalb der politischen Debatte hat diesen Auftrag keinesfalls einfacher werden lassen. Die Kontroversen müssen im Bildungsprozess auf dem Boden der Verfassung, aber ohne parteipolitische Wertung dargestellt und einsichtig gemacht werden, und zwar vor dem Hintergrund des Selbstverständnisses der jeweiligen Debattenlager. Dabei geht es nicht um Beliebigkeit oder Wertneutralität, sondern um Unvoreingenommenheit und die Fähigkeit, Kontroversen auszutragen – als Grundlage jeder fairen demokratischen Streitkultur.

Allerdings geschieht Überwältigung durch eine explizit parteipolitische Vereinnahmung heute vielleicht seltener, als dies möglicherweise zur Entstehungszeit des Beutelsbacher Konsenses der Fall gewesen sein mag. Sehr viel schwerer zu dechiffrieren, sind Überwältigungen, die aus einer fast flächendeckenden Milieugebundenheit  erwachsen. Sehr häufig wird dann unter dem Anschein der Neutralität für ein vermeintlich alternativlos „Gutes“ geworben, das in der öffentlichen Debatte und eben auch im Unterricht nicht mehr befragt werden darf.

Unterricht hat den Auftrag, zum politischen Handeln zu befähigen. Aber im Modus des „Als-ob“. Denn die Schule darf nicht bestimmen und sanktionieren, was die Schüler mit dem Gelernten anfangen. Politische Bildung – ja. Aber politisches Handeln gehört nicht in den Unterricht. Hier überschreitet die Schule ihre Grenzen, verletzt die Freiheit der Vernunft und damit Menschenrecht, wie Heitger mit vollem Recht sagt. Die Lehrer, die dabei mitmachen, lassen sich selbst in einen pädagogisch-politischen Rollenkonflikt treiben, der am Ende die eigene erzieherische Autorität verspielt.

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