Der Plakatwahlkampf in Bayern hat begonnen. Und die Liberalen versprechen eine „radikal vernünftige“ Politik. Die den Grünen nahestehende Heinrich-Böll-Stiftung fordert klimapolitisch einen „radikalen Realismus“. Und zwar: „jetzt!“
Ein neues Zauberwort ist gefunden: radikal. Und wer wollte widersprechen? Wer will schließlich schon unvernünftig oder unrealistisch sein. Je mehr Vernunft, je mehr Realismus, desto besser. Sollte man meinen. Dann kommen die richtigen politischen Lösungen schon von selbst. Kein Streit mehr, keine Hahnenkämpfe, keine Machtspiele. Ja, am Ende bräuchte es wohl auch keine Wahlkämpfe mehr, wenn doch alle nur vernünftig und realistisch wären.
Ist unvernünftig – oder nur nicht radikal vernünftig genug, wen jetzt langsame Zweifel beschleichen. Wer sich ein nüchternes Urteil in politischen wie ethischen Fragen bewahrt hat, sollte wissen, dass das Optimum nicht schon immer das Richtige und Vernünftige ist. In einer unvollkommenen Welt, in der immer wieder konfligierende Interessen oder widerstreitende Werte miteinander in Konflikt geraten, braucht es das differenzierte, abwägende, maßvolle Urteil, braucht es ethische Vorzugsregeln, braucht es das faire, argumentative Ringen um den gangbaren und sinnvollen Weg.
Wer sich radikal vernünftig verhalten wollte (wie immer man sich das auch vorstellen wollte), negiert die urteilende Vernunft, blendet alles andere aus und wird zum differenzierten, abwägenden Urteil unfähig. Der wird zum Gesinnungstäter, der blind einem Prinzip folgt, ohne nach der Verantwortung für sein Handeln zu fragen. Beispiele hierfür gibt es in der Politik zuhauf, früher wie heute. Und wer sich radikal realistisch verhalten wollte (wie immer man sich das auch vorstellen wollte), übersieht, dass die Welt nicht einfach so ist, wie er sie gernhätte. Auch er wird zum differenzierten, abwägenden Urteil unfähig.
Politik, die vernünftig und realistisch sein will, braucht Alternativen. Und um diese muss gestritten werden, nicht nur in Wahlkampfzeiten. Vorsicht vor einfachen Lösungen, so radikal vernünftig oder realistisch sich diese auch geben mögen. Politische Verantwortungsethik sieht anders aus.