Zwischenruf: St. Martin oder Sonne-Mond-und-Sterne-Fest?

Der hl. Martin und der Bettler von El Greco (1597/99)

Ein sprechendes, vom ersten Bundespräsidenten, Theodor Heuß, geprägtes Bild wird gern verwendet, wenn die Idee des christlichen Abendlands verständlich werden soll. Europa – mit seinen geschichtlichen Höhen wie Tiefen – gründe auf drei Hügeln: Golgatha, Areopag und Kapitol. Die drei genannten Berge stehen für jene drei Traditionen, die alle zusammengenommen das Spezifikum abendländischer Geistesgeschichte und der damit verbundenen Leistungen ausmachen: die Idee christlicher Barmherzigkeit und Solidarität, die Vorstellung von Demokratie, Individualität und einer Autonomie der Wissenschaft sowie der Anspruch auf Herrschaft des Rechts und die Vorstellung eines Naturrechts (wegen seiner Lehre vom Naturrecht hat es Cicero als „edler Heide“ dann sogar in den Katechismus der Katholischen Kirche geschafft). Die Verbindung von christlicher Erlösungsvorstellung, griechischer Philosophie und römischem Rechtsdenken zeigt sich auch noch in ihren säkularisierten Fassungen – zum Beispiel „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, worauf der Historiker Heinrich August Winkler hinweist. Wir sollten nicht glauben, dass Moderne und Aufklärung in Europa nicht bis heute von diesem Dreiklang zehren und den Kontinent letztlich zusammenhalten.

Immer stärker stellt sich aber die Frage, wie dieses abendländisch-christliche Erbe in einer zunehmend pluraler gewordenen Gesellschaft verstanden und bewahrt werden kann. Dabei geht es um mehr als ein konfessionelles Bekenntnis. Die christliche Identität besitzt für unser Gemeinwesen eine weitergehende kulturethische Bedeutung: für Politik und Kultur, für Bildung und autonome Wissenschaft, für unser Zusammenleben in Staat und Gesellschaft.  Ob wir diese Tradition angesichts der demographischen Entwicklung, säkularer Tendenzen auf der einen und vermehrter Einwanderung auf der anderen Seite bewahren können, ist auf längere Sicht keineswegs ausgemacht.

Wir sollten uns aber trotz der kulturethischen Bedeutung des christlichen Glaubens nichts vormachen: Schwinden Erlösungsglaube und christliche Glaubenspraxis in unserem Land, wird auf Dauer auch das auf dem Christentum beruhende Wertefundament brüchig werden. Wir werden den christlichen Referenzrahmen nicht schadlos durch andere Traditionen ersetzen können. Es steht mehr auf dem Spiel als liebgewordene „Folklore“, wenn wir Sankt Martin durch ein „Sonne-Mond-und-Sterne-Fest“ ersetzen, Weihnachtsgrüße zu unspezifischen „season’s greetings“ eindampfen oder Ostern zum „Hasenfest“ herabstufen. Wer weiß, wie lange unsere Feiertagskultur in dieser Form noch erhalten bleibt. Das Tanzverbot am Karfreitag wird kaum noch verstanden, verkaufsoffene Sonntage durchlöchern den verfassungsrechtlich geschützten Sonntag und einzelne Parteien oder Politiker fordern immer mal wieder, einen Teil der christlichen Feiertage durch muslimische zu ersetzen. Religiös gebundene Traditionen sollten im öffentlichen Raum der Bildung nicht „neutralisiert“ werden. Vielmehr ist zu fragen, wie diese interkulturell vermittelt werden können – und der Verfasser ist sich sicher: Das geht.

Bildung und Wissenschaft wären gerade nicht mehr neu­tral, wenn ihre Akteure darauf drängen, religiöse Fragen gänzlich auszuklammern, etwa zugunsten einer vermeintlich neutralen staatlichen Lebenskunde, Demokratie- oder Menschenrechtspädagogik. Rolf Schieder hat dies im „Handbuch Interreligiöses Lernen“ von 2005 pointiert auf den Punkt gebracht: „Eigentlich will man eine staatseigene Zivilreligion, wagt aber nicht die offene Konkurrenz mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften, sondern erklärt sich selbst für ‚neutral‘, womit die Religionsgemeinschaften eo ipso parteiisch sind. Das Motto lautet: Die anderen sind religiös, wir sind normal.“

Wir tragen eine soziale Verantwortung für Werte und Normen, Sitte und Brauchtum, Sprache und Wissenschaft, Kunst und Kultur oder Tradition und Religion, die weit über unsere eigene Gegenwart hinausreicht: Denn wie künftige Generationen leben, denken und handeln werden, wird wiederum davon beeinflusst werden, wie wir heute leben, denken und handeln. Und dieser Verantwortung zu entsprechen, ist auch eine Frage der gern bemühten Generationengerechtigkeit.

PS: Herzliche Segenswünsche an alle und den Kindern viel Freude, die morgen mit der Laterne gehen und dabei St. Martin feiern.

Was haben die Neurowissenschaften der Pädagogik zu sagen?

Aus einem Vortrag für einen Fachtag des DRK-Kreisverbandes Bad Doberan am 5. November 2022 im Technologiezentrum Warnemünde.

Die Neurowissenschaften sind in den vergangenen zwei bis drei Jahrzehnten äußerst populär geworden. Neue Teildisziplinen an der Schnittstelle zwischen Hirnforschung sowie Geistes- und Sozialwissenschaften entstanden, so beispielsweise innerhalb der Wirtschaftswissenschaften die Neuroökonomie, innerhalb der Theologie oder Religionswissenschaft die Neurotheologie oder eben innerhalb der Pädagogik die Neurodidaktik.

Erstmals taucht der Begriff Neurodidaktik Ende der Achtzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts beim Fachdidaktiker Gerhard Preiß auf, der damit betonen will, wie wichtig die Ergebnisse der modernen Hirnforschung für die Didaktik und die pädagogische Anwendung sind. Etwas später – Anfang der Neunzigerjahre – wird der Begriff dann von Gerhard Friedrich aufgegriffen und inhaltlich stärker konkretisiert.

Wird nun erklärbar, was bisher nur alltagstheoretisch fassbar war?

Gleich am Anfang muss ich reichlich Wasser in den Wein gießen.

Schon Friedrich betont in seiner Habilitationsschrift Anfang der Neunzigerjahre, dass die Neurowissenschaften keine eigene Didaktik zu begründen vermögen. In der Regel seien neurobiologische Verfahren (etwa bildgebende Methoden, welche Gehirnaktivitäten sichtbar machen sollen) für die pädagogische Anwendung zu unspezifisch. Neuere Erkenntnisse seien eher für die pädagogische Diagnostik zu erwarten, beispielsweise im Umgang mit Lern- und Verhaltensstörungen oder Sprachentwicklungs- und Aufmerksamkeitsstörungen.

Was haben die Neurowissenschaften, wenn überhaupt, der pädagogischen Praxis zu sagen?

Vielleicht können wir es so sagen: Sie helfen uns, das, was Lehren und Lernen ausmacht, noch einmal aus anderer Perspektive zu beschreiben, reichern unser Bild menschlicher Lernprozesse weiter an – ohne dass wir davon aber bestimmte Wunder erwarten könnten.

Die Neurowissenschaften helfen uns, die Eigengesetzlichkeiten des Geistig-Psychischen besser zu verstehen – ohne dass der Mensch damit aber allein auf seine physikalischen, chemischen oder physiologischen Bedingungen zu reduzieren wäre. Hierauf hat Gerhard Roth  [1] aufmerksam gemacht. Diese Eigengesetzlichkeiten verwundern als solche zunächst einmal nicht, insofern vieles, was wir im menschlichen Leben kennen, zwar körperliche oder naturwissenschaftlichen Grundlagen hat, mit solchen Prozessen aber keineswegs allein erklärt werden kann. Vielmehr führen die Elemente unseres geistig-psychischen Erlebens im Gehirn zu einer gewissen Autonomie geistiger Prozesse, die sich insbesondere bei der Verarbeitung neuer und für das Leben oder Überleben wichtiger Informationen als ordnungstiftende und gestaltende Faktoren zeigen.

Und damit sind wir beim Lernen.

Doch was wir als bunte Bilder vom Gehirn kennen, sind nicht einfach Abbildungen, beispielsweise von Lernprozessen. Vielmehr handelt es sich um hochverdichtete Konstrukte, welche die physiologischen Vorgänge, beispielsweise bei Lernprozessen, veranschaulichen sollen.

Die Elektroenzephalographie misst das elektrische Feld, die Magnetenzophalographie Magnetfeld, das aktive Nervenzellen erzeugen.

Bildgebende Verfahren, die funktionelle Studien zu bestimmten Hirnarealen erlauben, sind verschiedene Formen der Tomographie. Sie erzeugen Signale, die sich bildlich darstellen lassen, machen allerdings keine zeitliche Abfolge neuronaler Prozesse deutlich – anders als die Nahinfrarotspektroskopie, die allerdings nur sehr kleine Bereiche des Gehirns abbilden kann.

Neurowissenschaftliche Forschungen können Pädagogik nicht ersetzen, aber sie lassen allgemeine Aussagen darüber zu, was Lernen fördert oder behindert.

Eine mathematische Formel für menschliche Lernprozesse können die Neurowissenschaften also nicht liefern, auch deren Erkenntnisse müssen pädagogisch rekontextualisiert werden, also anschlussfähig gemacht werden an die spezifische Situation,  das lernende Individuum oder die konkrete Lerngruppe. Jede Erzieherin, jeder Erzieher weiß aus eigener Praxis, dass pädagogische Prozesse niemals standardisierbar sind. Jede Situation, jedes Kind ist immer wieder anders.

Ralph Schumacher [2] hat das Verhältnis zwischen Neurowissenschaft und Pädagogik in folgendem Bild verdeutlicht: Die Neurowissenschaft stellt keine Anleitung zum Bau eines Segelbootes zur Verfügung, aber sie gibt Hinweise, wie das pädagogisch zu konstruierende Boot auf dem weiten Meer effizient genutzt werden kann. Lernen steht in einem größeren Kontext, den pädagogische Fachkräfte didaktisch erfassen müssen und der über den Horizont der Neurowissenschaft hinausreicht. Hier sind überzogene Erwartungen, mit den Neurowissenschaften ließe sich gleichsam das Bildungssystem revolutionieren oder effizienter machen, sehr schnell deutlich zurückgenommen worden.

Aber die Neurowissenschaften können wichtige Hinweise liefern, auf die richtigen Bedingungen für gelingendes Lernen zu achten – mit dem Ziel, Kinder gut auf das Leben vorzubereiten, sie stark zu machen und zugleich widerstandsfähig, wenn Belastungen auf sie zukommen. Dabei können aus neurowissenschaftlicher Sicht Erfahrungen bestätigt werden, die schon lange aus pädagogisch-psychologischer Erfahrung oder aus der Reformpädagogik bekannt sind.

Wie lernen Kinder?

Die Suche nach dem berühmten „Nürnberger Trichter“ mag verlockend sein, wird aber pädagogisch erfolglos bleiben. Denn Lernen erfolgt nicht passiv, sondern ist ein aktiver Vorgang der Informationsverarbeitung. Dabei lassen sich Veränderungen im Gehirn des Lernenden nachweisen. Eine besondere, wenn auch keine ausschließliche Rolle, spielt der Hippocampus im Inneren des Gehirns, ein Art „Arbeitsspeicher“ (der Name bedeutet „Seepferdchen“, was an das ungefähre Aussehen dieses Teils des Gehirns erinnert).

Im Hippocampus fließen Informationen verschiedener sensorischer Systeme zusammen, die verarbeitet und von dort zum Cortex zurückgesandt werden. Damit ist der Hippocampus enorm wichtig für die Gedächtniskonsolidierung, also die Überführung von Gedächtnisinhalten aus dem Kurzzeit- in das Langzeitgedächtnis. Wir können von einer Struktur sprechen, die Erinnerungen entstehen lässt, während die Gedächtnisinhalte aber an verschiedenen anderen Stellen in der Großhirnrinde gespeichert werden.

Der Hippocampus ist auch für die Koordinierung der verschiedenen Gedächtnisinhalte verantwortlich. Beispielsweise besteht die „innere Karte“, die wir etwa von einer Stadt besitzen, aus zahlreichen Eindrücken, die wir zu unterschiedlichen Zeitpunkten gewonnen haben. Im Hippocampus werden diese zusammengefügt, und wir können uns so orientieren.

Pädagogisch geht es bei einer neuropsychologischen Sicht auf Lernen nicht in erster Linie um die Suche nach Defiziten. Vielmehr kommt es darauf an, die Rahmenbedingungen für die Aktivität des Lernens möglichst förderlich zu gestalten. Dabei kommt es nicht allein auf die Quantität an – nach dem Motto: möglichst früh, möglichst viel. Dies war ein Denkfehler sogenannter „Hothousing“-Programme, die nach der ersten PISA-Studie in China und den USA um sich griffen.

„Hothousing“ – auf Deutsch: Treibhaus – ist eine Form der Bildung für Kinder, bei der ein Thema sehr intensiv studiert wird, um den Geist des Kindes anzuregen. Das Ziel ist es, normale oder aufgeweckte Kinder zu nehmen und sie auf ein intellektuelles Leistungsniveau zu bringen, das über der Norm liegt. Babys sollten bei diesen Programmen bereits früh mit möglichst vielen Reizen konfrontiert werden.

Es kommt vielmehr auf die Qualität der Lernprozesse an. In den frühen Jahren verändert sich das Gehirn sehr stark, daher darf die frühe Bildung für die Entwicklung des Einzelnen nicht unterschätzt werden. In den ersten zwei Lebensjahren sind die Nervenzellen als gleichmäßiges Netz verbunden, das so aber nicht erhalten bleibt. Die  synaptischen Verbindungen zwischen den einzelnen Nervenzellen – sozusagen die wichtigen „Datenbahnen“ in unserem Gehirn – nehmen zu. In den weiteren Jahren bis zur Pubertät  verstärken sich einzelne dieser Bahnen, es kommt – um im Bild zu bleiben – zu „Datenautobahnen“, die stärker, schneller und häufiger „befahren“ werden als andere.

Die Verstärkung einzelner Synapsen ist abhängig von Lernprozessen, von der Häufung der Impulse in Bezug auf bestimmte Gehirnaktivitäten, die beim Lernen eine Rolle spielen. Im Erwachsenenalter steht das bis dahin gebildete, mehr oder weniger strukturierte Netz zur Verfügung. Allerdings zeigen neuere Untersuchungen, dass unser Gehirn auch im Erwachsenenalter keineswegs starr ist. Abhängig vom „Input“, das es erhält, baut sich unser Gehirn immer wieder und weiter um. Es wurde mittlerweile nachgewiesen, dass sich im erwachsenen Gehirn im Hippocampus neue Verbindungen zwischen bestehenden Nervenzellen bilden und dass diese Neubildung mit dem Erwerb neuer Gedächtnisinhalte zusammenhängt. Man spricht von synaptischer Plastizität.

Die gespeicherten Informationen werden aber vom Gehirn nicht einfach als Abbild gespeichert, vielmehr handelt es sich um Repräsentationen in Form komplexer neuronaler Muster. Synapsen arbeiten nicht symbolisch, sie kennen nur die Aktivierung oder Hemmung durch Impulse, vereinfacht: Strom fließt oder fließt nicht.

Die Informationen in unserem Gehirn werden vielmehr durch Synapsenstärken repräsentiert. So wie wir bei der Arbeit am Computer nicht sehen, was in den einzelnen Chips abläuft, ist uns die „Arbeit“ unserer Synapsen ebenfalls nicht direkt zugänglich; nur durch aufwendige bildgebende Verfahren ist es der Neurowissenschaft gelungen, einen Teil dieser Vorgänge nachzuvollziehen.

Im Vergleich zur Computertechnik „lernt“ unser Gehirn äußerst langsam und muss durch Übung und Wiederholung beständig unterstützt werden, dafür verarbeitet und speichert es Informationen aber sehr viel komplexer. Denn es genügt nicht, dass wir beim Lernen einfach ein „Abbild“ von etwas speichern. Es kommt auf die Regel dahinter an – nur dann können wir etwas Gelerntes auch unter anderen Bedingungen und in veränderter Form wieder abrufen. Wir kennen nicht allein einen einzigen bestimmten Tisch. Wir erkennen vielmehr das Muster Tisch, auch wenn jeder einzelne von diesen ganz verschieden aussehen kann. Oder: So ist es beim Spracherwerb für Kinder beispielsweise wichtig, nicht allein einzelne Wörter zu lernen, sie müssen die Regel dahinter verstehen und neuronal verarbeiten.

Insgesamt hat die Neuropsychologie darauf aufmerksam gemacht, welch wichtige Rolle Emotionen für ein ganzheitliches, effektives Lernen spielen. Unsere neuronalen Schaltkreise werden nicht unwesentlich durch zwischenmenschliche Erfahrungen bestimmt. Zu erklären versucht wird dies mit Hilfe sogenannter Spiegelneuronen, wie Giacomo Rizzolatti besondere Nervenzellen bezeichnet hat. Ein Spiegelneuron bezeichnet eine Nervenzelle, die im Gehirn beim „Betrachten“ eines Vorgangs das gleiche Aktivitätsmuster zeigt, als wenn der Vorgang selbst ausgeführt worden wäre – daher auch der Begriff „Spiegel“.

 Allerdings sind Forschungen in diesem Bereich, die zunächst an Primaten vorgenommen wurden, schwer auf den Menschen zu übertragen; die Untersuchung einzelner menschlicher Neuronen ist nur bei ganz bestimmten Krankheitsbildern, etwa Epilepsie, möglich. Erst seit zwölf Jahren gehen Forscher davon aus, dass Spiegelneuronen auch beim Menschen nachweisbar sind. Die Forschungen stehen aber noch sehr am Anfang, die Datenbasis beim Menschen ist noch äußerst gering. Daher bleibt Vorsicht angebracht angesichts der weitreichenden Hypothese, die immer wieder im Zusammenhang mit menschlichen Spiegelneuronen angebracht wurden.

Spiegelneuronen ermöglichen es, mitzuvollziehen, was bei anderen abgeschaut wurde. Für Kinder sind Spiegelneuronen gleichsam die „Eintrittskarte“ in die Welt, weil sie die unbewusste Tendenz zur Imitation begünstigen, z. B. im motorischen Bereich. Über Analogieschluss erfolgte die Annahme, dies gelte auch für Emotionen: Gefühlsbezogene Spiegelneuronen – so die Annahme –, ermöglichten es, sich an der Aktion eines anderen still zu beteiligen, machten empathiefähig, und würden helfen, andere intuitiv – ohne längeres Nachdenken – zu verstehen. Gesicherte Belege für eine solche Annahme fehlen allerdings noch.

Kinder lernen am Modell, am lebendigen und erlebbaren Vorbild des Pädagogen – dessen sollten sich Erzieherinnen und Erzieher immer bewusst sein. Untersuchungen haben gezeigt, dass beim Einsatz von „Lernrobotern“ die Spiegelneurone quasi ausgeschaltet sind. Aufgabe des Pädagogen ist es, sich in die Kinder hineinzuversetzen und eine Atmosphäre aufzubauen, in der Lernen Freude macht und gelingen kann. Die pädagogische Kunst besteht darin, die rechte Balance zwischen Verstehen und Führen deutlich zu machen.

Für den bekannten Neurowissenschaftler und Psychiater Manfred Spitzer zeigt die Gehirnforschung nicht nur, dass wir zum Lernen geboren seien und gar nicht anders könnten, als lebenslang zu lernen. Sie ermögliche uns, die Rahmenbedingungen des Lernens besser zu verstehen. Da alle Handlungen „Spuren im Gehirn“ hinterlassen, so Spitzer – umso intensiver, je häufiger sie ausgeführt werden –, sei es nicht egal, was Kinder den ganzen Tag tun. Kinder lernten deutlich schneller als Erwachsene. Das Gehirn eines Erwachsenen unterscheide sich grundlegend von dem in der Entwicklung begriffenen Kindergehirn. Handeln und Begreifen (im Wortsinn gemeint) spielten nicht nur für das Erlernen konkreter einzelner Dinge eine Rolle, sondern auch beim Erlernen allgemeinen Wissens, auch beim semantischen Gedächtnis, bei unserem Weltwissen, und sogar bei so etwas Abstraktem wie Zahlen. Darum plädiert Spitzer weiterhin für Fingerspiele statt Laptops in den Kindergärten oder für handschriftliches Schreiben und Malen mit dem Bleistift als für das  Tippen auf der Tastatur.

Allerdings sollten neurowissenschaftliche Erkenntnisse nicht mechanisch oder schematisch angewandt werden. Sie sollten in Beziehung gesetzt werden zum weiteren kulturellen Selbstverständnis des Menschen von sich selbst.

Für uns in der Elementarbildung heißt das: Die Neurowissenschaften ersetzen nicht die Didaktik oder die Pädagogik. Sie erweitern unser Bild des menschlichen Lernens ww– oder anders gesagt: Jedes Lernen hat mit neurowissenschaftlichen Vorgängen zu tun. Aber Lernen ist nicht einfach neurowissenschaftlich erklärbar.

[1] Gerhard Roth, Nicole Strüber: Wie das Gehirn die Seele macht, Stuttgart 52015 (vgl. S. 371).

[2] Ralph Schumacher: Wie viel Gehirnforschung verträgt die Pädagogik? Über die Grenzen der Neurodidaktik, in: Ralf Caspary (Hg.): Lernen und Gehirn, Hamburg 72012, S. 12 – 22.

Zum Weiterlesen:

https://www.kindergartenpaedagogik.de/fachartikel/psychologie/2364/

Bedrohung der Wissenschaftsfreiheit: „Tichys Einblick“ geht auf Ursachensuche

Das Debattenmagazin „Tichys Einblick“ fragt nach den Ursachen der gegenwärtigen „Cancel Culture“, welche die Wissenschaftsfreiheit, eine zentrale Errungenschaft der Moderne, bedroht:

Ronald G. Asch, Eurozentrismus als Ursünde des Westens? Der mögliche Sonderweg Europas in der globalen Geschichte aus der Sicht der frühen Neuzeit, leicht gekürzter und um die im Buch enthaltenen Anmerkungen und Quellenangaben bereinigter Auszug aus: Schulze-Eisentraut/Ulfig, Angriff auf die Wissenschaftsfreiheit. Wie die Cancel Culture den Fortschritt bedroht und was wir alle für eine freie Debattenkultur tun können. FBV, Hardcover, 256 Seiten, 25,00 €.

Zum Weiterlesen:

Netzwerk Wissenschaftsfreiheit verurteilt studentische Kampagne gegen Leipziger Privatdozenten

Netzwerk Wissenschaftsfreiheit zur Kampagne gegen PD Dr. Javier Y. Álvarez-Vázquez

Pressemitteilung, 03.11.2022

Das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit verurteilt die studentische Kampagne gegen PD Dr. Javier Y. Álvarez-Vázquez an der Universität Leipzig und begrüßt es, dass die Universitätsleitung den Forderungen der Studenten nach Absage des Seminars nicht nachgekommen ist.
Studenten müssen damit leben, dass in einer Literaturempfehlung Werke enthalten sind, mit deren Inhalt sie nicht einverstanden sind. Es zeichnet wissenschaftliche Lehre aus, sie auch mit abweichenden Ansichten zu konfrontieren und diese zu diskutieren. Die Vorwürfe der „Transphobie“ sind ehrabschneidend und dienen nicht der Debatte, sondern der Diffamierung der Person. Die Störung eines Seminars ist eine inakzeptable Verletzung der Lehrfreiheit.
Die Universitätsleitung wird aufgefordert, auch weiterhin die Rechte von PD Dr. Álvarez-Vázquez zu schützen und entsprechende Schritte im Hinblick auf das gegen ihn gerichtete Mobbing zu prüfen.

Quelle: http://www.netzwerk-wissenschaftsfreiheit.de

Rezension: Erziehung zur Mündigkeit

Kolja Zydatiss, gesellschaftspolitischer Sprecher des Debatteninstituts Freiblickinstitut und Ferdinand-Friedensburg-Preisträger 2021, rezensiert in den Akademischen Blättern des Verbandes der Vereine deutscher Studenten den Band „Bildung und Religion. Die geistigen Grundlagen des Kulturstaates (Berlin 2022)“ von Axel Bernd Kunze:

Kolja Zydatiss (Rez.): Erziehung zur Mündigkeit, in: Akademische Blätter (2022), Heft III, S. 8 f.

Bildung und Religion

Kolja Zydatiss: “Ohne ‘stabilen, leistungsfähigen Kulturstaat‘ auch keine ‚Achtung vor dem freien Subjekt‘, schließt Kunze (131) Warum der freiheitlich-demokratische Kulturstaat auch eine religiöse Grundlage hat, die wir auf eigene Gefahr hin verleugnen, hat der Autor im besprochenen Werk überzeugend dargelegt. Fazit: Ein wichtiges Buch zur richtigen Zeit.“