Grundlagen und Aufgaben theologischer Bildungsethik

„Bildungsgerechtigkeit in religionspädagogischer Perspektive“ lautete der Titel einer internationalen religionspädagogischen Expertentagung, die im Herbst 2014 in der Katholischen Akademie Schwerte stattfand. In diesen Tagen ist innerhalb der Reihe „Religionspädagogik innovativ“ die Tagungsdokumentation erschienen. Monika Bobbert (Universität Münster) und Axel Bernd Kunze (Universität Bonn) vertreten in diesem Band die Perspektive der theologischen Sozialethik:

 

Axel Bernd Kunze: Bildung und Nachfolge – Zu den Aufgaben einer christlichen Bildungsethik,

in: Bernhard Grümme, Thomas Schlag (Hgg.): Gerechter Religionsunterricht. Religionspädagogische, pädagogische und sozialethische Orientierungen (Religionspädagogik innovativ; 11), Stuttgart: Kohlhammer 2016, S. 245 – 259.

 

Zusammenfassende Thesen des Beitrags:

Bildung gehört zu den fundamentalen Dimensionen des Menschseins, ohne welche das in der Menschenwürde sich ausdrückende Vermögen zum Vernunft-, Freiheits- und Sprachgebrauch nicht zur Entfaltung kommen könnte und ist daher als eigenständiges Menschenrecht geschützt.

Als säkulares Recht bleiben die Menschenrechte auf ein sie stützendes Ethos angewiesen, das außerhalb ihrer selbst liegt; Aufgabe theologischer Ethik ist es, sich um eine eigenständige Begründung der Menschenrechte zu mühen.

Christliche Nachfolge bedeutet nicht, das Vorbild Jesu einfach nachzuahmen, sondern bei der sittlichen Urteilsbildung an seiner Person Maß zu nehmen und sein Beispiel in einem eigenständigen Lebensentwurf zu realisieren; dies setzt Bildung, verstanden als Befähigung zur Selbstbestimmung, unabdingbar voraus.

Christliche Bildungsethik fragt, welche pädagogischen Handlungen die Anerkennung menschlicher Freiheit zum Ausdruck bringen können und wie diese bildungspolitisch sowie institutionell abgesichert werden können.

Zugleich muss theologische Ethik fragen, wie die Liebe zur Gerechtigkeit als bleibendes Fundament und notwendiges Korrektiv jeder Gerechtigkeit geweckt werden kann.

Weiterführende Arbeitsfragen am Schluss des Beitrags:

Wie sollten Religionspädagogik und Katechese gestaltet sein, wenn ein auf Freiheit fußendes, umfassendes Verständnis christlicher Nachfolge ernstgenommen werden soll?

Wie kann die Bestimmung des Einzelnen zur Freiheit (religions-)pädagogisch gefördert werden?

Was können die Kirchen als wichtige Bildungsträger dazu beitragen, dass ein Recht auf Bildung gesichert ist und zunehmend voller verwirklicht wird?

Welchen Beitrag kann religiöse Bildung dabei leisten, jenes Ethos zu sichern, auf das die Menschenrechte um ihrer Wirksamkeit willen angewiesen bleiben und das rechtlich allein nicht garantiert werden kann?

Welche Folgerungen ergeben sich aus Perspektive einer christlichen Bildungsethik für die Gestaltung eines Bildungssystems, das der Freiheit des Einzelnen gerecht wird und seine Selbstbestimmung fördert?

Weblog feiert Geburtstag

Liebe Leser, liebe Leserinnen meines Weblogs,

im August 2015 – also vor einem Jahr – erschien der erste Beitrag dieses Weblogs, das sich zur Aufgabe gesetzt hat, die bildungsethische Debatte durch eigene Beiträge und Nachrichten kritisch-konstruktiv zu begleiten. Mit diesem Beitrag sind bisher insgesamt hundert Beiträge entstanden.

Die Bildungsethik ist innerhalb der Sozialethik eine noch recht junge Disziplin. Entscheidende Anstöße, einen eigenständigen sozialethischen Bildungsdiskurs zu etablieren, gingen vor rund zehn Jahren vom Bamberger DFG-Forschungsprojekt „Das Menschenrecht auf Bildung“ aus. Mittlerweile ist Bildung als Thema im sozialethischen Gespräch fest verkammert. Wie bei einer noch recht jungen Teildisziplin nicht anders zu erwarten, bedarf es aber noch weiterer Anstrengung, einer eigenständigen Sozialethik der Bildung deutlich Kontur zu verleihen. Als strittig hat sich in den bisherigen Debatten nicht zuletzt das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit innerhalb der Diskussion um Bildungsgerechtigkeit oder der Stellenwert bildungstheoretischer und pädagogischer Überlegungen als Quellen einer Sozialethik der Bildung erwiesen.

Das vorliegende Weblog will dazu beitragen, die sozialethische Bildungsdebatte weiter zu profilieren und konzeptionell zu stärken: durch wissenschaftliche Beiträge, bildungspolitische Kommentare, Hinweise auf Neuerscheinungen oder Nachrichten zu aktuellen Entwicklungen innerhalb einer Sozialethik der Bildung. Ich danke allen, die im zurückliegenden Jahr das Weblog interessiert verfolgt und durch eigene Kommentare begleitet haben. Die Erfahrungen der ersten zwölf Monate ermutigen dazu, die begonnene Diskussion fortzusetzen. Ich freue mich, dabei auch weiterhin auf Ihr Interesse bauen zu dürfen.

Der englische Jurist und Politiker Henry Peter Brougham wusste vor rund zweihundert Jahren: „Bildung macht Menschen leicht zu führen, aber schwer zu lenken; leicht zu regieren, aber unmöglich zu versklaven.“ Dieses Zitat hat bis heute nichts an Aktualität eingebüßt. Wir brauchen eine engagierte und differenzierte Debatte über Bildungsfragen – um der Humanität und der Freiheit unseres Zusammenlebens willen.

In diesem Sinne: Herzlichen Dank für das gemeinsame Nachdenken über Bildung!

Mit herzlichen Grüßen und allen guten Wünschen

Ihr Axel Bernd Kunze

 

Leseprobe

Am 6. August 2016 wurde der neue Band „Rote Fahnen, bunte Bänder. Korporierte Sozialdemokraten von Lassalle bis heute“, herausgegeben von Manfred Blänkner und Axel Bernd Kunze, im Rahmen der Jubiläumstagung des Lassalle-Kreises feierlich vorgestellt.

Das „Schwäbische Tagblatt“ hat über die Tübinger Lassalletagung berichtet:

http://www.tagblatt.de/Nachrichten/Seit-2006-organisieren-sich-korporierte-Sozialdemokraten-im-Lassalle-Kreis-298572.html

Eine Leseprobe zum neuen Band findet sich auf den Seiten des Verlages J. H. W. Dietz Nachf.:

http://dietz-verlag.de/downloads/leseproben/0481.pdf

Zu lesen sind das Vorwort von Erhard Eppler, die Einleitung der beiden Herausgeber in Anliegen und Aufbau des Bandes sowie das Lebensbild des Begründers der deutschen Sozialdemokratie, Ferdinand Lassalle. In ihrer Einleitung schreiben Manfred Blänkner und Axel Bernd Kunze:

„Politische Parteien könnten von den Erfahrungen, dem Engagement und dem Orientierungswissen ihrer korporierten Mitglieder profitieren, dies gilt auch für die SPD. Überdies zeigen sich bei genauerem Hinsehen deutliche Parallelen zwischen Parteien und Korporationen. Die Mitgliederpartei vermittelt wichtige politische Sozialisationserfahrungen. Dabei geht es nicht nur um das Erlernen technischer und strategischer Politikfähigkeit, sondern auch um die Weitergabe gemeinsam geteilter Traditionen und politischer Werte. Diese bestimmen das sozialethische Urteilen und Handeln der Parteimitglieder. So garantieren Parteien dem politischen Prozess über den Weg kollektiver Selbstregulierung ein bestimmtes Maß an Wertebindung und die kontinuierliche Weitergabe kollektiv gespeicherter Erfahrungen. Dem kulturethischen Wissen, das die Parteien vermitteln, kommt eine nicht zu unterschätzende kulturstaatliche Orientierungsfunktion zu: Erst auf Basis einer solchen Wertgrundlage wird die Politik zu nachhaltigen Entscheidungen fähig und ist eine verlässliche Organisation des politischen Prozesses möglich.“ (S. 12 f.)

Neue Rezensionen zur Psychologie

Im August 2016 sind im Rezensionsportal Socialnet neue Rezensionen zu zwei psychologischen Neuerscheinungen veröffentlich worden:

PÄDAGOGISCHE PSYCHOLOGIE

Axel Bernd Kunze (Rez.): Marcus Roth, Victoria Schönefeld, Tobias Altmann (Hrsg.): Trainings- und Interventionsprogramme zur Förderung von Empathie. Ein praxisorientiertes Kompendium. Springer-Verlag (Berlin, Heidelberg, New York, Hongkong, London, Mailand, Paris, Tokio, Wien) 2015. 212 Seiten.
www.socialnet.de/rezensionen/20345.php

POLITISCHE PSYCHOLOGIE

Axel Bernd Kunze (Rez.): Sonja Zmerli, Ofer Feldman (Hrsg.): Politische Psychologie. Handbuch für Studium und Wissenschaft. Nomos Verlagsgesellschaft (Baden-Baden) 2015. 378 Seiten.
www.socialnet.de/rezensionen/19778.php

Frühkindliche Bildung und Neurowissenschaften

Neuer Artikel im Onlinehandbuch zur Kindergartenpädagogik:

Axel Bernd Kunze: Wie lernen Kinder? Frühkindliche Bildung im Licht neuropsychologischer Forschung, in:

Martin R. Textor (Hg.): Das Kita-Handbuch (Würzburg, 4. August 2016),

http://www.kindergartenpaedagogik.de/2364.html

Inhaltsübersicht:

  1. Wie lernen Kinder?
  2. Wie sollten Lernprozesse gestaltet sein?
  3. Was macht Kinder widerstandsfähig?
  4. Wie kann die Widerstandsfähigkeit in Kindertageseinrichtungen gefördert werden?

Gerda Matt und Klaus Amann veröffentlichen das Praxisbuch „Supervisionsteam“

Zum Ende des Schuljahres wurde Gerda Matt als Schulpsychologin vom Salvatorkolleg verabschiedet. Als sozusagen krönenden Abschluss ihrer Tätigkeit für die Schule konnte sie gemeinsam mit Klaus Amann, dem stellvertretenden Schulleiter, das Praxishandbuch „Das Supervisionsteam“ veröffentlichen.

Während ihrer Tätigkeit am Salvatorkolleg hat Gerda Matt in Zusammenarbeit mit Lehrerinnen und Lehrern und verschiedenen Klassen des Salvatorkollegs und der Mädchen- und Jungenrealschule St. Elisabeth in Friedrichshafen das Supervisionsteam als ein besonders wirksames Instrument zur Intervention in schwierigen schulischen Situationen entwickelt:

Immer wieder kommt es an Schulen zu Situationen, in denen Schülerinnen und Schüler, Lehrpersonen oder Eltern über belastende und unklare Situationen für einzelne Schülerinnen und Schüler oder für die ganze Klasse berichten, ohne dass von außen Ursachen oder Umfang der Belastung benannt werden können. In solchen Situationen kann das Supervisionsteam eine Hilfe sein, Lösungsstrategien zu entwickeln.

Unter der Leitung einer Moderatorin oder eines Moderators wird im Team, das aus einer Teilgruppe der Klasse besteht, über Belastendes in der Klasse gesprochen. Die Klassenlehrerin bzw. der Klassenlehrer ist bei diesen Gesprächen immer dabei, moderiert aber die Gespräche nicht, da die Klassenleitung Teil des Systems ist. Die Sicht der Schülerinnen und Schüler steht im Mittelpunkt. Die Erfahrung mit den Teams hat gezeigt, dass die jungen Leute ein sehr feines Gespür für die Situation haben und oftmals auch Ursachen benennen können. Am Ende der Runde stehen möglicherweise Lösungsvorschläge. In der Regel finden mehrere Teamsitzungen statt, um den Erfolg auch nachhaltig zu sichern: belastende Situationen sind nicht durch eine einmalige „Aktion“ zu verändern, sondern es handelt sich um einen Prozess, in dessen Verlauf sich Strukturen ändern können.

Bei den Supervisionsteams handelt es sich um eine lösungsorientierte Strategie, die im Rahmen des erzieherischen Auftrags der Schule eingesetzt wird: Diese Strategie ist von der Erfahrung getragen, dass Schülerinnen und Schüler in ihrem Handeln und in ihren Lösungsansätzen genauer und wirksamer sind als direkte Interventionen der Erwachsenen bzw. der Schulleitung es sein können. Die jungen Menschen werden ernst genommen und ihr Vertrauen in die eigene Kompetenz steigt. Gleichzeitig erkennen und lernen sie, dass sie Situationen verändern können. Dies stärkt die Klassengemeinschaft und das Selbstvertrauen.

Das Ziel der Arbeit in diesem Setting ist immer die Re-Integration von Schülerinnen und Schülern in die Klasse. Die Erfahrungen der letzten Jahre am Salvatorkolleg und an der Mädchen- und Jungenrealschule St. Elisabeth zeigen, dass dieses Ziel erreicht wird.

Gerda Matt und Klaus Amann sind der Meinung – und haben dies schon erprobt -, dass die Moderation der Teams nicht zwangsläufig durch eine Psychologin erfolgen muss. Aus dieser Überzeugung ist die Veröffentlichung entstanden. Sie soll interessierten Lehrerinnen und Lehrern aber auch Eltern und einer breiteren Öffentlichkeit Einblicke in die Arbeit mit dem Supervisionsteam geben und Leitfaden für die eigene Praxis sein. Im Moment wird ein Fortbildungskonzept entwickelt, das die Einführung solcher Teams an Schulen unterstützen wird.

Gerda Matt u. Klaus Amann: Das Supervisionsteam. Eine prozessorientierte Lösungsstrategie bei Konfliktlagen in Schulklassen. Ein Praxisbuch. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 2016, ISBN: 978-3-8340-1641-6.

(P. Dr. Friedrich Emde, Schulleiter des Gymnasiums Salvatorkolleg, Bad Wurzach)

Druckfrisch: Rote Fahnen, bunte Bänder

Druckfrisch erschienen ist der neue, studentenhistorisch wie politikethisch interessante Sammelband des Lassalle-Kreises:

ROTE FAHNEN, BUNTE BÄNDER. Korporierte Sozialdemokraten von Lassalle bis heute,

hg. i. A. d. Lassalle-Kreises v. Manfred Blänkner u. Axel Bernd Kunze,

Bonn: J. H. W. Dietz Nachf., 319 Seiten.

Der Band wird am 6. August 2016 im Rahmen der diesjährigen Jubiläumstagung des Lassalle-Kreises in Tübingen vorgestellt werden.

Inhaltsübersicht:

Vorwort von Bundesminister a. D. Erhard Eppler

Ursprünge: Das Erbe der Urburschenschaft (Peter Brandt)

Biographien korporierter Sozialdemokraten

Gedanken sozialdemokratischer Korporierter heute

Männerbund – pro und contra

Der Lassalle-Kreis

Anhang: Zum Weiterlesen, Autorinnen und Autoren, Bildnachweis

Beiträge des Mitherausgebers:

Einleitung der Herausgeber (Manfred Blänkner, Axel Bernd Kunze)

Ferdinand Lassalle (Eberhard Fuchs unter Mitarbeit von Manfred Blänkner und Axel Bernd Kunze)

Wilhelm (Willy) Aron (Axel Bernd Kunze)

Rolf Krumsiek (Axel Bernd Kunze)

Adolf Reichwein (Axel Bernd Kunze)

Haben Männerbünde Zukunft? Ja! (Axel Bernd Kunze, im Streitgespräch mit Florian Boenigk)

Zum Weiterlesen (Redaktion: Manfred Blänkner, Axel Bernd Kunze)

Der Band basiert auf Biographien, die zunächst für die Internetseiten des Lassalle-Kreises gesammelt wurden. Eine erste, sehr viel kleinere Sammlung erschien anlässlich der Lassalle-Tagung 2010 in Manuskriptform.

PROFIL-Titelgeschichte: Wenn das Akademische verloren geht …

Der Beitrag Wenn das Akademische verloren geht … Professoren, die lieber Lehrer sein möchten, und Studenten, die lieber Schüler bleiben wollen …, erstmals erschienen in den Burschenschaftlichen Mitteilungen 1/2016 (Bamberg/Leipzig 2016), ist als Titelgeschichte der aktuellen Doppelausgabe von PROFIL, der Verbandszeitschrift des Deutschen Philologenverbandes, nun einem größeren Leserpublikum zugänglich:

Axel Bernd Kunze: Wenn das Akademische verloren geht …, in: Profil. Das Magazin für Gymnasium und Gesellschaft (2016), H. 7-8, S. 22 – 37.

Notwendiges Vertrauen in den Staat

Der Rechtsstaat sollte auf eine Anschlagsserie wie jene, die wir in den vergangenen Tagen erlebt haben, nüchtern und besonnen reagieren, aber auch mit notwendiger Entschlossenheit. Und die fehlt, seit das gesinnungsethische „Wir schaffen das“ der Kanzlerin alle staatsethischen Argumente vom Tisch gefegt hat. „Der Rechtsstaat wird nicht weichen“, zitiert die F.A.Z. am 26. Juli Ministerpräsident Seehofer. Nur eine Seite weiter fordert CSU-Generalsekretär Scheuer, alle Flüchtlinge in Deutschland müssten genau überprüft werden. Genau hier ist der Rechtsstaat bereits gewichen. Nur ein Staat, der sein Territorium wirksam kontrolliert und sein Gewaltmonopol verteidigt, wird auf Dauer auch humanitär Hilfe leisten können. Lebensnotwendige Grundlage einer freiheitlichen Gesellschaft ist das Vertrauen der Bürger, dass der Staat innere und äußere Sicherheit wirksam garantiert. Wenn unsere Entscheidungsträger, nicht allein in der Politik, noch lange so leichtfertig mit diesem Vertrauen umgehen, wie es seit der Willkommenseuphorie des vergangenen Sommers der Fall ist, werden wir dies mit zunehmender Radikalisierung bezahlen, und zwar auf beiden Seiten. Bildungsanstrengungen allein werden dies nicht auffangen können, wenn der Staat Vertrauen und Handlungsfähigkeit einbüßt.

NRW senkt Lateinanforderungen im Studium – ein Kommentar aus bildungsethischer Perspektive

Mit dem Latein am Ende!?

Nordrhein-Westfalen setzt die Lateinanforderungen in vielen Studiengängen deutlich herab: Nach dem Willen der Landtagsmehrheit entfällt künftig die Latinumspflicht für Lehramtsstudiengänge in modernen Fremdsprachen, dies gilt auch für romanische Sprachen wie Französisch oder Spanisch. Studenten der Geschichte und Philosophie sollen nur noch ein kleines Latinum benötigen. Philosophieprofessor Michael Quante hält die „Anpassung“ in der neuen Ausgabe der Münsteraner Universitätszeitung „wissen | leben“ (Juli 2016, S. 8) für „alternativlos“. Seine Begründung speist sich aus einer abstrakten Kompetenzorientierung moderner Didaktik, für die Inhalte beliebig geworden sind: Die „Bildungsgrundpfeiler“ haben sich für den Münsteraner Hochschullehrer geändert, „da wir zunehmend und ausreichend damit beschäftigt sind, die Kompetenz im Lesen und Schreiben komplizierter deutscher Texte und die Fähigkeit zum Verfassen sprachlich und stilistisch guter Texte sicherzustellen.“ Man reibt sich verwundert die Augen: War das nicht immer schon ein allgemeinbildendes Ziel des Lateinunterrichts!?

Juliane Albrecht verweist in ihrem Beitrag für „wissen | leben“ auch auf bildungsethische Argumente, die für eine Reduzierung der Lateinvorgaben ins Feld geführt werden: Es gehe um Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit. „Denn viele Abiturienten humanistischer Gymnasien hätten üblicherweise Latein-Unterricht genossen, ihre Alterskollegen von Gesamtschulen mit gymnasialer Oberstufe hingegen nicht.“ Hier zeigen sich einmal mehr die traditionsfeindlichen, kulturzerstörerischen und leistungsfeindlichen Folgen eines Bildungsegalitarismus. Was nicht alle lernen können oder wollen, darf am Ende niemand mehr lernen. Wird individuelle Bildungsfreiheit kollektiv verrechnet, führt dies zu abgesenkten Standards und Niveauverlust – langfristig mit gravierenden Folgen für Kultur und Leistungsfähigkeit des Landes. Leider sind viele Bildungsethiker blind gegenüber den kulturethischen Folgen, die drohen, wenn das Gleichgewicht zwischen Freiheit und Gleichheit im Bildungssystem schwindet: Die Folgen werden wir langfristig zu spüren bekommen, wenn der öffentlichen Debatte geistige Vitalität, sprachliches Differenzierungsvermögen, Leistungsbereitschaft und historisches Tiefenwissen verloren gehen werden.

Ein Bildungsegalitarismus, wie er sich jetzt wieder in der nordrhein-westfälischen Studienrreform zeigt, hat aber nicht allein gesellschaftliche Folgen. Er erweist sich pädagogisch auch als äußerst lieblos gegenüber dem Einzelnen. Was bietet die heutige „Bolognauniversität“ ihren Studenten? Inhaltlich entkernte, im Niveau abgesenkte, standardisierte, für alle gleiche, verschulte Massenstudiengänge, in denen das erworbene Wissen durch Ankreuztests abgefragt wird? Eine Universität, die geistige Anstrengungsbereitschaft nicht mehr verlangt und sich von den historischen Wurzeln unserer Kultur selbst abschneidet, fördert weder den fachlichen Impetus ihrer Studenten noch deren Persönlichkeitsentfaltung und bietet auch nicht die Möglichkeit zum Aufstieg durch individuelle Leistung. Und welche geistige Anregung bieten wir auf Dauer unseren Kindern und Jugendlichen in der Schule, wenn sie auf Lehrer treffen, deren fachliche Basis immer schmaler und einseitiger wird? Auf Facebook erfreut sich die nordrhein-westfälische Studienreform unter Studenten durchaus großer Beliebtheit. Eines sollte dabei aber auch bedacht werden: Auf Dauer ist  mit der Absenkung fachlicher Standards auch die tarifliche Bezahlung auf dem Niveau des Höheren Dienstes gefährdet. Gymnasiallehrer, die schlechter ausgebildet werden, können auch schlechter bezahlt werden – und es wäre nicht das erste Mal, dass tarifliche Standards im Öffentlichen Dienst für Neueinsteiger abgesenkt werden.

Viele haben die verschiedenen Bildungsreformen im Zuge von PISA, Bologna-, Kopenhagen- oder Lissabonprozess als Katalysatoren gesellschaftlichen Fortschritts oder „Demokratisierung von Wissen“ begrüßt und aktiv vorangetrieben. Andere haben sich damit beruhigt, dass auch im Zeitalter von Bachelor und Master alles beim Alten bleiben würde. Dies erweist sich als Trugschluss. Aus der Universität wird zunehmend eine höhere Berufsschule, die nur noch passgenau für ein bestimmtes Berufsbild qualifizieren soll; die gesellschaftliche Kraft akademischer Bildung für soziale Identitäts- und Traditionsbildung wird entsprechend kleingeschrieben. Für die Zukunft unseres Landes verheißt auch dies nichts Gutes. Ein Studium sollte zu Berufen befähigen, die ein hohes Maß an persönlicher Freiheit im Denken und Handeln voraussetzen.

Man mag dies alles für übertriebenen Kulturpessimismus halten und es als gesellschaftlichen Fortschritt ansehen, wenn der Ballast „alteuropäischen Denkens“ gemindert und in der Hochschuldidaktik Latein den modernen Fremdsprachen gleichgestellt wird … Seien wir uns des Erreichten nicht allzu sicher. Der erreichte Stand an Kultur, Wissen und Fertigkeiten ist kein fester Besitz, sondern muss immer wieder neu errungen und schöpferisch angeeignet werden. Wir können auch bestimmter Inhalte, Traditionen und identitätsstiftender Momente kollektiv verlustig gehen, wenn diese nicht mehr abgefordert, eingeübt und nachgefragt werden.